Luftaufnahme zeigt Flugzeuge am Flughafen in Kabul
Reuters/MAXAR TECHNOLOGIES
Nach Anschlag

Staaten peitschen Evakuierungen durch

In Kabul sind nach dem Doppelanschlag mit Dutzenden Toten auf dem Flughafen Kabul die Evakuierungen wieder angelaufen. Dabei steht aber eine zunehmende Anzahl an Staaten vor dem Abschluss der Mission. Lediglich die USA, die zuletzt 13 tote Soldaten beklagen mussten, dürften die Frist bis 31. August nutzen wollen. Die Bedenken, dass es zu einem weiteren Anschlag kommen könnte, sind erheblich.

Je näher der Abzugstermin rücke, umso größer werde die Bedrohung, sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am Freitag. Die Absicht sei klar: Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) – die sich zu dem Anschlag am Donnerstag bekannte – wolle den Eindruck erzeugen, sie sei es gewesen, die den Abzug der alliierten Kräfte erzwungen habe.

Nach Wallaces Angaben flog Großbritannien seit Mitte August fast 14.000 britische und afghanische Staatsbürger aus Kabul aus. „Die traurige Tatsache ist, dass nicht jeder rauskommen wird“, fügte der Minister hinzu. Man werde am Freitag noch Ausschau nach ausreiseberechtigten Personen halten. Grundsätzlich sei der Prozess aber nun abgeschlossen. Dass der Anschlag den Abzug beschleunigt habe, dementierte Wallace.

USA rüsten für weitere Attacken

Die Lage auf dem Flughafen Kabul ist nach dem verheerenden Doppelanschlag höchst angespannt. Wegen der Sicherheitslage können auch geplante Versorgungsflüge der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht mehr stattfinden. Das medizinische Material zur Versorgung der Bevölkerung werde daher knapp, so die WHO am Freitag. Die Vorräte reichten nur noch für ein paar Tage.

Briten beenden Evakuierungsmission

ORF-Korrespondentin Sophie Roupetz berichtet aus London über die britische Evakuierungsmission in Afghanistan. Premierminister Boris Johnson hatte angekündigt, nur noch britische Militärangehörige ausfliegen zu wollen.

Der Chef des Zentralkommandos der US-Streitkräfte, General Kenneth McKenzie, sagte, man rüste sich nun in Kabul für weitere Attacken inklusive Raketenangriffen und Sprengstoffanschlägen mit Fahrzeugen. „Wir erwarten, dass diese Angriffe weitergehen werden“, so McKenzie. Man tue alles, um vorbereitet zu sein. Denn er betonte, dass die USA die Evakuierungsmission wie geplant weiterführen wollen. Sie soll bis spätestens 31. August gehen. Auch Australien und Großbritannien hielten es für möglich, dass es zu weiteren Anschlagsversuchen kommen könnte. Bereits am Donnerstagvormittag war nach Geheimdienstinformationen eindringlich vor einer Attacke gewarnt worden.

IS-Ableger bekannte sich zu Anschlag

Zu dem Angriff bekannte sich ein IS-Ableger. Der IS erklärte über sein Propagandasprachrohr Amak, ein Attentäter des regionalen IS-Ablegers Provinz Khorasan (ISKP) habe alle Sicherheitsabsperrungen überwunden und sich US-Soldaten auf „nicht mehr als fünf Meter“ nähern können. Er habe dann seine Sprengstoffweste detonieren lassen.

Wie viele Zivilpersonen bei dem Anschlag starben, ist noch völlig unklar. Die Taliban und Spitäler meldeten erst 72 tote Zivilpersonen und 28 Taliban-Angehörige, revidierten die Zahlen dann aber stark: Freitagfrüh hieß es, es seien keine Taliban-Kämpfer gestorben, und man rechne mit 13 bis 20 toten Zivilisten. Die entmachtete Ex-Regierung geht hingegen von mehr als 70 Toten aus.

Gerangel zwischen Menschen in einer Straße in Kabul
AP/Vaka News Agency
Chaos nach dem Anschlag in Kabul

Explosion bei Zugangstor

Die Explosionen fanden laut dem US-Verteidigungsministerium an einem Zugangstor zum Flughafen und beim nahe gelegenen Hotel Baron statt. Vor dem Flughafen hatten sich angesichts des nahenden Endes der Evakuierungsmission Tausende Menschen versammelt, die auf Rettung hoffen. Der Flughafen wird während der Evakuierungen von etwa 5.800 US-Soldaten gesichert.

US-Sperrzone Flughafen Kabul mit ungefährer Lage des Hotels Baron.

Deutschland beendete am Donnerstag fast gleichzeitig mit dem Anschlag seinen Einsatz. In der Nacht landete in Frankfurt das letzte Flugzeug mit Geretteten. Die deutsche Regierung ließ am Freitag wissen, dass es immer noch über 10.000 Ortskräfte und zur Ausreise identifizierte Personen gebe. Man könne derzeit nicht sagen, wie viele der Menschen möglicherweise schon auf andere Weise ausgereist seien. Die Zahl der Deutschen in Afghanistan schätze man auf etwa 300. Den Zurückgelassenen versprach die Regierung Hilfe.

Zuvor hatten Australien, Belgien, Dänemark, Polen, die Niederlande und Kanada ihre Rettungseinsätze beendet. Auch Spanien schloss seine Mission am Freitag ab. Russland plant zumindest vorerst keine weiteren Flüge aus Afghanistan.

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) ging bei seiner Planung im schlimmsten Fall davon aus, dass eine halbe Million Afghanen zu Flüchtlingen werden.

Entsetzen nach Terroranschlag

In Kabul wurden am Donnerstag bei Anschlägen Dutzende Menschen getötet. US-Präsident Joe Biden drohte den Drahtziehern mit Vergeltung und möchte die Evakuierungsflüge fortsetzen. Andere Nationen haben diese ausgesetzt.

Außenministerium: Evakuierung auch auf Landweg

Mehr als hundert Menschen wurden nach Angaben des Außenministeriums auch mit österreichischer Unterstützung in Sicherheit gebracht. Zum Teil sei das auch über den Landweg erfolgt, hieß es am Freitag aus dem Außenministerium gegenüber der APA. Derzeit befänden sich „noch einige Dutzend“ österreichische Staatsbürger mit afghanischen Wurzeln in und um Kabul. Dazu kämen afghanische Staatsbürger, deren Aufenthalt in Österreich aber teilweise noch nicht abgeklärt sei. Man werde weiterhin alle Möglichkeiten ausschöpfen, diese Personen aus Afghanistan zu bringen.

Die zivilen Evakuierungsflüge seien aber beendet, hieß es aus dem Außenministerium. Daher konzentrierten sich die laufenden Bemühungen auf eine Ausreise über den Landweg. Die österreichischen Stellen bemühten sich, einen Grenzübertritt in die Nachbarländer zu ermöglichen. Derzeit seien die Grenzen geschlossen. Weiterhin gebe es „keine Hinweise“ darauf, dass bei dem Doppelanschlag auch österreichische Staatsbürger zu Schaden gekommen wären, hieß es aus dem Außenministerium.

Biden schwört Rache

Für Biden entwickelt sich der Abzug indes weiter zum Fiasko. Er wandte sich am Donnerstag an die Öffentlichkeit und kündigte Vergeltung für den Anschlag an. „Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen“, sagte Biden im Weißen Haus. „Wir werden euch jagen und euch büßen lassen.“

Die Flaggen wurden auf halbmast gesetzt. Der Anschlag war der verlustreichste Tag für die US-Streitkräfte seit zehn Jahren – damals war ebenfalls in Afghanistan ein Militärhubschrauber abgeschossen worden, 30 Militärangehörige wurden getötet.

Briten hinterließen Daten afghanischer Helfer

Vom Flughafen aus läuft seit Tagen eine großangelegte Evakuierungsaktion, um Ausländer und gefährdete Afghanen nach der Machtübernahme der Taliban per Flugzeug in Sicherheit zu bringen. Bisher konnten laut US-Angaben mehr als 100.000 Menschen das Land auf diesem Weg verlassen. Zudem wurde wiederholt betont, man wolle nach dem 31. August Menschen auf diplomatischem Wege aus dem Land bringen.

Viele Afghaninnen und Afghanen fürchten Racheakte der Taliban an Menschen, die mit ausländischen Kräften zusammengearbeitet haben. Diese gelten nun als gefährdet. Umso brisanter erschien daher am Freitag ein Bericht der Londoner „Times“, dem zufolge Großbritannien bei der Evakuierung seiner Botschaft in Kabul sensible Daten afghanischer Ortskräfte hinterlassen habe.

US-Soldaten und Zivilisten am Flughafen in Kabul
AP/Wali Sabawoon
In der Hoffnung auf Rettung kamen am Donnerstag wieder Tausende zum Flughafen

Wie ein Reporter, der das Gebäude mit Erlaubnis der Taliban betreten konnte, berichtete, waren auf dort herumliegenden Dokumenten teilweise Namen, Adressen und Telefonnummern zu finden. Das britische Außenministerium teilte dem Bericht zufolge mit, bei der Evakuierung des Gebäudes sei „alles unternommen worden, um sensibles Material zu zerstören“. Aus dem Verteidigungsministerium hieß es aber, das hätte nicht passieren dürfen – Premierminister Boris Johnson werde sich die Details ansehen.