Frau mit Kinder geht an Bord einer Militärmaschine
Reuters/Us Air Force
Hoffnung schwindet

Kaum noch Flüge aus Kabul

Bis nächsten Dienstag, dem Fristende für einen endgültigen Abzug aus Afghanistan, werden nicht mehr viele Menschen ausgeflogen werden können. Die meisten Staaten beendeten wegen der hohen Terrorgefahr ihre Rettungsmissionen. Wie die „New York Times“ meldete, starben am Donnerstag bei dem Anschlag nahe dem Kabuler Flughafen 170 Menschen.

Der Anschlag am Donnerstag dürfte weit mehr Menschen getötet haben, als bisher angenommen. Laut „New York Times“ gab es neben 170 Todesopfern auch rund 200 Verletzte. Das Blatt berief sich in seinem am Freitag veröffentlichten Bericht (Onlineausgabe) auf Spitalsvertreter, die anonym bleiben wollten. Die Taliban hätten ihnen verboten, mit den Medien zu sprechen, hieß es.

Bei dem Anschlag hatte sich ein Selbstmordattentäter des IS-Ablegers Provinz Chorasan vor dem Flughafen in die Luft gesprengt – nicht zwei, wie es zunächst hieß. Zuvor hatte es zahlreiche Warnungen vor Terrorattacken gegeben. Die US-Streitkräfte gehen nun von weiteren Terrorattacken aus. Für die USA entwickelt sich der Abzug zum Fiasko. US-Präsident Joe Biden wandte sich am Donnerstag an die Öffentlichkeit und kündigte Vergeltung für den Anschlag an.

Tausende warten noch

Bis Dienstag wollen die USA und wenige Verbündete noch Menschen aus Kabul ausfliegen. Laut US-Militär warteten am Freitag noch immer 5.000 Menschen auf dem Flughafen, um Afghanistan verlassen zu können. Die USA versuchen derzeit, rund 500 US-Amerikaner aus Afghanistan auszufliegen. Diese wollten ausreisen, und man stehe mit ihnen im direkten Kontakt, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, am Freitag. Man sei außerdem in Kontakt mit mehreren hundert Staatsbürgern, die sich noch nicht entschieden hätten, ob sie das Land verlassen wollten.

Seit Donnerstagfrüh wurden von den USA und ihren Verbündeten noch einmal rund 12.500 Menschen außer Landes gebracht, wie das Weiße Haus mitteilte. Insgesamt seien seit Mitte August rund 105.000 Menschen gerettet worden. Was nach Dienstag in Kabul passieren wird, ist unklar. Deutschland, Australien, Belgien, Dänemark, Polen, die Niederlande, Schweden, Spanien, Italien und Kanada beendeten inzwischen ihre Rettungseinsätze. Russland plant zumindest vorerst keine weiteren Flüge aus Afghanistan. Frankreich will die Flüge über Freitagabend hinaus fortsetzen.

Die Pläne der USA

ORF-Korrespondent Christophe Kohl spricht über das weitere Vorhaben der USA in Afghanistan.

„Verbittert und frustriert“

„Die Möglichkeit für Ortskräfte Deutschlands rauszufliegen, ist jetzt … nicht mehr vorhanden“, sagte am Freitag der Leiter des Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, Marcus Grotian. Alle seien nach dem Ende der deutschen Luftbrücke und dem Anschlag vom Donnerstag „verbittert und frustriert und auch hoffnungslos, denn so richtig, wie es jetzt weitergehen soll, wissen sie alle nicht“, so Grotian zu Reuters TV.

Dass die Taliban die früheren Ortskräfte einbinden könnten, hält er für unmöglich. Sie hätten schließlich 20 Jahre dabei geholfen, die Taliban zu bekämpfen. „In dem Sinne sind die quasi ja wie ein Stachel im eigenen Fleisch.“ Am Freitag gab das deutsche Außenministerium bekannt, dass es noch rund 10.000 Ortskräfte und zur Ausreise identifizierte Personen in Afghanistan gebe, die Zahl der Deutschen in Afghanistan schätzte man auf etwa 300. Den Zurückgelassenen versprach die Regierung in Berlin Hilfe.

Menschen sammeln sich bei einem Checkpoint in der Nähe des Kabuler Flughafens
AP/Khwaja Tawfiq Sediqi
Checkpoint nahe dem Flughafen Kabul: Die Sicherheitslage nach dem Anschlag vom Donnerstag ist höchst angespannt

Widersprüchliche Meldungen über Kontrolle des Flughafens

Das US-Verteidigungsministerium wies am Freitag Berichte zurück, wonach die Taliban den Flughafen Kabul unter ihre Kontrolle gebracht haben sollen. Der Flughafen stehe weiter gänzlich unter der Kontrolle des US-Militärs, sagte der Sprecher des Pentagons, John Kirby, am Freitag. „Sie kontrollieren keines der Tore, sie kontrollieren nicht den Betrieb des Flughafens – das ist weiter unter der Kontrolle des US-Militärs“, sagte Kirby.

Taliban-Sprecher Bilal Karimi hatte zuvor auf Twitter erklärt, das US-Militär habe „drei wichtige Bereiche“ im militärischen Teil des Flughafens verlassen. Diese Bereiche seien nun „unter der Kontrolle des Islamischen Emirats“ und nur noch „ein sehr kleiner Teil“ des Airports werde von US-Soldaten kontrolliert.

Evakuierung auch auf Landweg

Auch die Außerlandesbringung von Österreichern wird zunehmend schwieriger. Mehr als hundert Menschen sind nach Angaben des Außenministeriums vom Freitag bisher mit österreichischer Unterstützung aus Afghanistan außer Landes in Sicherheit gebracht worden. Zum Teil sei das auch über den Landweg erfolgt, hieß es am Freitag gegenüber der APA. Derzeit seien aber immer „noch einige Dutzend“ österreichische Staatsbürger mit afghanischen Wurzeln in und um Kabul. Dazu kämen noch afghanische Staatsbürger, deren Aufenthalt in Österreich aber teilweise noch nicht abgeklärt sei.

Man werde weiterhin alle Möglichkeiten ausschöpfen, diese Personen aus Afghanistan zu bringen. Die zivilen Evakuierungsflüge der Partner seien aber beendet, teilte das Außenministerium mit. Über eigene Evakuierungsflüge verfügt Österreich nicht. Nun konzentrierten sich die laufenden Bemühungen auf eine Ausreise über den Landweg. Die österreichischen Stellen bemühten sich, einen Grenzübertritt in die Nachbarländer zu ermöglichen. Derzeit seien aber die Grenzen geschlossen.

Taliban versprechen offene Grenzen

Die radikalislamischen Taliban gebe sich indes weiter gemäßigt. Am Freitag versprach ein ranghoher Vertreter zukünftig offene Grenzen und Reisefreiheit für alle Bürger mit gültigen Papieren. „Die Grenzen Afghanistans werden offen sein, und die Menschen werden jederzeit ein- und ausreisen können“, so Sher Mohammad Abbas Stanikzai, Vizechef der politischen Kommission der Dschihadisten in einer Fernsehansprache.

Evakuierungen aus Afghanistan im Eiltempo

Bis kommenden Dienstag sollen die Evakuierungsmissionen aus Afghanistan abgeschlossen sein. Viele westliche Länder haben ihre Rettungsaktionen bereits beendet.

Briten hinterließen Daten afghanischer Helfer

Viele Afghaninnen und Afghanen fürchten jedoch Racheakte der Taliban an Menschen, die mit ausländischen Kräften zusammengearbeitet haben. Diese gelten nun als gefährdet. Umso brisanter erschien daher am Freitag ein Bericht der Londoner „Times“, dem zufolge Großbritannien bei der Evakuierung seiner Botschaft in Kabul sensible Daten afghanischer Ortskräfte hinterlassen habe. Wie ein Reporter, der das Gebäude mit Erlaubnis der Taliban betreten konnte, berichtete, waren auf dort herumliegenden Dokumenten teilweise Namen, Adressen und Telefonnummern zu finden.

Britische Evakuierungsmission endet

ORF-Korrespondentin Sophie Roupetz berichtet aus London über die britische Evakuierungsmission in Afghanistan. Premierminister Boris Johnson hatte angekündigt, nur noch britische Militärs ausfliegen zu wollen.

Das britische Außenministerium teilte dem Bericht zufolge mit, bei der Evakuierung des Gebäudes sei „alles unternommen worden, um sensibles Material zu zerstören“. Aus dem Verteidigungsministerium hieß es aber, das hätte nicht passieren dürfen – Premierminister Boris Johnson werde sich die Details ansehen.

UNO rechnet mit halber Million auf der Flucht

Die UNO rechnete am Freitag damit, dass im schlimmsten Fall heuer etwa 515.000 Menschen die Flucht aus Afghanistan antreten könnten. Wie sich die Lage tatsächlich entwickle, sei jetzt noch nicht abzusehen. Afghanistans Nachbarstaaten haben bereits 5,2 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgenommen. 90 Prozent seien im Iran und in Pakistan, weitere in Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Afghanische Flüchtlinge in der US-Basis Ramstein in Deutschland
APA/AFP/Armando Babani
Auf der US-Basis Ramstein Deutschland: Die USA fliegen noch wenige Tage Menschen außer Landes

Die Vereinten Nationen riefen die Weltgemeinschaft auf, die Nachbarstaaten Afghanistans finanziell zu unterstützen. Insgesamt brauchen den Angaben zufolge elf UNO- und Hilfsorganisationen für die Vorbereitung auf weitere afghanische Geflüchtete in der Region bis Ende des Jahres zusätzlich 299 Millionen Dollar (254 Mio. Euro). Damit sollen Zelte, Hygieneartikel und Nahrungsmittel beschafft werden.

Auch in Afghanistan selbst ist die Versorgungslage kritisch. Wegen der hohen Terrorgefahr können auch geplante Versorgungsflüge der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht mehr stattfinden, hieß es am Freitag. Das medizinische Material zur Versorgung der Bevölkerung werde daher knapp, die Vorräte reichten nur noch für ein paar Tage.