Afghanen und Afghaninnen beim Betreten eines Flugzeuges aus Katar am Flughafen in Kabul
AP/Qatar Government Communications Office
Afghanistan

Westen ringt um neue Fluchtwege

Mit dem bevorstehenden Ende der Evakuierungsaktion der USA und westlicher Verbündeter beginne „eine noch größere humanitäre Krise“ in Afghanistan. Davor warnte am Montag UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi. Zahlreiche westliche Staaten arbeiten an der Unterstützung durch Länder in der Region. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sprach hier von Gesprächen „auf Augenhöhe“.

Gemeinsam mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) und Vertretern aus Dänemark, Deutschland und Griechenland nahm er am Montag an einer Videokonferenz mit zentralasiatischen Ländern – darunter Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan – teil. Der deutsche Außenminister Heiko Maas reist hingegen persönlich in einer eiligen Krisenmission durch fünf Länder, die eine Rolle für die Ausreise schutzbedürftiger Menschen spielen.

Dazu zählt auch das arabische Golfemirat Katar, das einen besonders guten Draht zu den Taliban hat. Zudem will Maas mit den Nachbarn Afghanistans verhandeln, dass sie Menschen, die auf der deutschen Schutzliste stehen, einreisen lassen. Usbekistan gab laut Maas bereits seine Zusage, die Ausreise von Deutschen, Ortskräften und Schutzbedürftigen aus Afghanistan zu unterstützen. Maas kündigte am Montag auch finanzielle Hilfe für die Nachbarländer Afghanistans an. Zusätzlich zu den bereits zur Verfügung gestellten 100 Mio. Euro für Hilfsorganisationen sollen weitere 500 Mio. Euro für Flüchtlingshilfe ausbezahlt werden.

Deutschlands Außenminister Heiko Maas spricht mit Usbekistans Außenminister Abdulaziz Kamilov
AP
Maas (r.) im Gespräch mit dem usbekischen Außenminister Abdulasis Kamilow

Schwierige Ausreise über Landweg

Es gehe Deutschland nur um den Transit der Menschen, die von Usbekistan weiter nach Deutschland ausgeflogen werden sollen, so Maas. Derzeit weist Usbekistan viele Flüchtlinge aus Afghanistan an der Grenze zurück. Es sei schwierig, in der zweiten Evakuierungsphase nach dem Ende der Militärflüge Menschen über den Landweg aus Afghanistan zu holen, so Maas. Dafür müssten zumindest Sicherheitsgarantien mit den Taliban verhandelt werden, um die Schutzsuchenden an die Grenzen zu bringen. Es sei daher nun vorrangig, den Kabuler Flughafen wieder zu sanieren, um die Ausreise zu ermöglichen.

Während der UNO-Flüchtlingshochkommissar an die internationale Gemeinschaft appellierte, die Grenzen offen zu lassen und die „humanitäre Verantwortung“ mit den Nachbarländern Pakistan und Iran zu teilen, forderte Nehammer, dass nun Maßnahmen ergriffen werden müssten, um Migrationsströme nach Europa zu verhindern.

In der Videokonferenz mit den Nachbarn Afghanistans sollen auch sicherheitspolizeiliche Angebote für die Unterstützung bei der Grenzsicherung und beim Kampf gegen organisierte Kriminalität gemacht werden. Abschiebungen in diese Länder seien ein wichtiges Thema, derzeit aber nachgereiht, so Nehammer. Vorerst gehe es um Vertrauen und Gespräche auf Augenhöhe.

UNO-Sicherheitszone gefordert

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) sehen nun vor allem die Vereinten Nationen gefordert und verlangen eine rasche Geberkonferenz auf UNO-Ebene.

Macron erwartet keine Flüchtlingskrise wie 2015

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hingegen erwartet keine Flüchtlingskrise wie 2015: „Ich halte die Lage nicht mit 2015 für vergleichbar, denn Afghanistan ist nicht Syrien.“ Dennoch sei „klar, dass mehr Menschen versuchen werden, nach Europa zu kommen, was zusätzlichen Druck auf unsere Aufnahmekapazitäten erzeugt“, so Macron. Europa müsse sich deshalb „besser organisieren“.

Nehammer und Schallenberg sehen vor allem die UNO gefordert. Am Montag wollen UNO-Generalsekretär Antonio Guterres und die Vertreter der ständigen Sicherheitsratsmitglieder über eine mögliche UNO-Sicherheitszone in Kabul sprechen. Frankreich und Großbritannien wollen das im UNO-Sicherheitsrat durchsetzen. „Unser Resolutionsentwurf zielt darauf ab, eine Sicherheitszone in Kabul zu definieren, die eine Fortsetzung der humanitären Operationen ermöglicht“, sagte Macron.

„Unkontrollierte Bewegungen“ verhindern

Die militärische Evakuierungsaktion neigt sich dem Ende zu. Zahlreiche Staaten bemühen sich weiter, eine sichere Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen – auch nach dem bis Dienstag geplanten vollständigen Abzug der US-Streitkräfte. Am Montag wurde von US-Seite bestätigt, dass der Großteil des diplomatischen Personals bereits ausgereist ist. Seit dem 14. August wurden etwa 120.000 Menschen aus Afghanistan herausgebracht. Die Taliban sicherten in einer Erklärung am Sonntag mehreren Ländern zu, dass ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und Ortskräfte aus dem Land ausreisen dürfen.

Laut Schallenberg wurden bisher 110 österreichische Staatsbürger und Menschen mit gültigem Aufenthaltstitel aus Afghanistan gebracht. Man bemühe sich weiterhin, Menschen außer Landes zu bringen. Das habe sich derzeit auf den Landweg verlagert – vor allem über Pakistan. Es meldeten sich aber täglich neue Menschen, die Hilfe bei der Ausreise erbitten, so Schallenberg. Das werde geprüft.

5,2 Mio. Afghanen in Nachbarstaaten

Zugleich wollen die EU-Innenminister aber offenbar „unkontrollierte Bewegungen großer Immigrantengruppen“ aus Afghanistan verhindern. Das geht aus einem Reuters vorliegenden Entwurf hervor, den die Innenminister am Dienstag in einer Dringlichkeitssitzung erklären wollen. Laut diesem Entwurf sollen neue Sicherheitsrisiken für EU-Bürger und -Bürgerinnen abgewendet werden.

Die Vereinten Nationen bereiten sich auf die Flucht von mehr als einer halben Million Menschen aus Afghanistan vor. Bereits jetzt haben die Nachbarstaaten 5,2 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgenommen. 90 Prozent sind laut UNHCR im Iran und in Pakistan, weitere in Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Ein Flugzeuge der US Air Force startet am Flughafen Kabul
APA/AFP/Aamir Qureshi
Bis Dienstag soll der US-Abzug aus Afghanistan abgeschlossen sein

Prekäre Lage auf Kabuler Flughafen

US-Präsident Joe Biden hatte erst am Sonntag vor möglichen weiteren Anschlägen auf den Flughafen Kabul und dessen Umgebung gewarnt. Montagfrüh wurde ein Raketenangriff auf den Flughafen abgewehrt. Opfer oder Schäden dürfte es nicht gegeben haben. Die Raketen dürften von einem Auto aus abgefeuert worden sein. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekannte sich zu dem Angriff.

Erst am Donnerstag waren bei einem IS-Anschlag auf dem Flughafen mindestens 13 US-Soldaten – und -Soldatinnen sowie zwei Briten ums Leben gekommen. Die Angaben über die afghanischen Todesopfer schwanken, Sender wie CNN sprachen von bis zu 200 Toten.

Nach einem US-Militärschlag gegen mutmaßliche IS-Terroristen am Sonntag in Kabul prüft die US-Armee nun Berichte über zivile Opfer. In dem zerstörten Fahrzeug habe sich „eine große Menge Sprengstoff“ befunden, „die womöglich zu weiteren Opfern führte“, hieß es. „Es ist nicht klar, was passiert sein könnte, und wir untersuchen das weiterhin. Wir wären sehr traurig über den möglichen Tod Unschuldiger“, hieß es.

Verhandlungen über Flughafenbetrieb

Unterdessen laufen die Verhandlungen zwischen den NATO-Ländern und den Taliban über den Weiterbetrieb des Kabuler Flughafens. Laut Taliban-Angaben vereinbarte man mit den USA eine rasche Übergabe. „Wir warten auf das abschließende Kopfnicken der Amerikaner, um die vollständige Kontrolle über den Kabuler Flughafen zu übernehmen“, sagte ein Sprecher gegenüber Reuters. Nach seinen Worten verfügten die Taliban über ein Expertenteam, das in der Lage sei, die Flughafentechnik zu bedienen.

Menschenmenge vor Evakuierung auf dem Flughafen von Kabul
Reuters/Italienisches Verteidigungsministerium
Die Türkei könnte künftig den operativen Betrieb des Flughafens Kabul übernehmen

Der Vorschlag der Taliban, wonach die Türkei künftig für den operativen Betrieb und sie nur für die Absicherung des Airports zuständig sein sollen, wurde vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Skepsis quittiert. Die vorgeschlagene Aufgabenteilung sei schwierig umzusetzen, sagte Erdogan am Sonntag im Zuge laufender Verhandlungen über die künftige Absicherung.

Türkei prüft Betrieb des Flughafens

Trotz der geäußerten Skepsis Erdogans prüft die Türkei nach Angaben von Außenminister Mevlüt Cavusoglu den Betrieb des Flughafens. Zu den Reparaturen und dem Betrieb brauche man Personal und Anlagen, fügte Cavusoglu hinzu. Dabei sei es wichtig, von den Taliban Sicherheitsgarantien zu bekommen. Deutschland kündigte finanzielle und technische Hilfe beim Wiederaufbau des schwer beschädigten Flughafens an.

Bisher spielte die NATO für das Funktionieren des Flughafens eine große Rolle: Zivilpersonal des Militärbündnisses übernahm die Luftverkehrskontrolle, Treibstoffversorgung und Kommunikation, während Soldaten aus der Türkei, den USA, Großbritannien und Aserbaidschan für die Sicherheit zuständig waren.