Frau in einer Burka mit Kindern
Reuters/Omar Sobhani
Medikamente knapp

WHO startet Luftbrücke für Afghanistan

Afghanistan per Flugzeug zu verlassen und zu erreichen wird zunehmend schwieriger. Die Zukunft des Flughafens in Kabul ist nach wie vor nicht entschieden. Während auf der einen Seite Schutzsuchende das Land kaum verlassen können, mangelt es auch an Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern. Am Montag startete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Luftbrücke, um die medizinische Versorgung zu unterstützen.

Eine Maschine aus Pakistan mit 12,5 Tonnen an Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern landete auf dem eigentlich geschlossenen Flughafen in der Stadt Mazar-e Sharif im Norden Afghanistans – eine logistische Herausforderung. Ingenieure aus Pakistan waren schon vorab zum Flughafen geschickt worden, um den Betrieb zu ermöglichen.

Laut WHO ist das die erste medizinische Hilfslieferung seit der Machtübernahme der Taliban. Damit kann der Gesundheitsbedarf von mehr als 200.000 Menschen gedeckt werden. Die WHO will die Lieferung an 40 Gesundheitseinrichtungen in 29 der 34 Provinzen des Landes verteilen. Zudem sind zwei weitere Flüge mit medizinischen Gütern geplant.

„Größere humanitäre Krise“ steht noch bevor

Zuvor hatte es auch von der österreichischen Politik geheißen, „Hilfe vor Ort“ zu verstärken. Kritik daran kam von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Es seien bereits seit Jahren „Milliarden Euro“ in Hilfe für Afghanistan „gepumpt“ worden. Es sei aber fraglich, wie viel davon wirklich bei den Menschen ankomme: „Wir warnen seit Jahren davor, dass die medizinische Versorgung trotz aller versprochenen Hilfen nach wie vor desaströs ist.“ Die Organisation betont, kein Geld von Regierungen für „Hilfe vor Ort“ anzunehmen. Sonst könne die Unabhängigkeit nicht glaubwürdig gewahrt werden.

Es fehlt nicht nur an Medikamenten sondern auch an Lebensmitteln. Nach Schätzungen des Welternährungsprogramm (WFP) haben rund 14 Millionen Menschen in Afghanistan nicht genug zu essen. „Jeder dritte Mensch“ sei von schwerem oder akutem Hunger bedroht, sagte die Leiterin des WFP in Afghanistan, Mary-Ellen McGroarty. Besonders betroffen ist die ländliche Bevölkerung.

UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi warnte mit dem knapp bevorstehenden Ende der Evakuierungsaktion der USA und westlicher Verbündeter vor dem Beginn „einer noch größeren humanitäre Krise“ in Afghanistan. Er forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Grenzen offen zu lassen und die „humanitäre Verantwortung“ mit den Nachbarländern Pakistan und Iran zu teilen.

Macron: „Keine Flüchtlingskrise wie 2015“

Die Vereinten Nationen bereiten sich auf die Flucht von mehr als einer halben Million Menschen aus Afghanistan vor. Bereits jetzt haben die Nachbarstaaten 5,2 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgenommen. 90 Prozent sind laut UNHCR im Iran und in Pakistan, weitere in Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erwartet keine Flüchtlingskrise wie 2015: „Ich halte die Lage nicht mit 2015 für vergleichbar, denn Afghanistan ist nicht Syrien.“ Dennoch sei „klar, dass mehr Menschen versuchen werden, nach Europa zu kommen, was zusätzlichen Druck auf unsere Aufnahmekapazitäten erzeugt“, so Macron. Europa müsse sich deshalb „besser organisieren“.

Dennoch wollen die EU-Innenminister aber offenbar „unkontrollierte Bewegungen großer Immigrantengruppen“ aus Afghanistan verhindern. Das geht aus einem Reuters vorliegenden Entwurf hervor, den die Innenminister am Dienstag in einer Dringlichkeitssitzung erklären wollen. Laut diesem Entwurf sollen neue Sicherheitsrisiken für EU-Bürger und -Bürgerinnen abgewendet werden.

120.000 Menschen herausgeholt

Am Montag wurde von US-Seite bestätigt, dass der Großteil des diplomatischen Personals bereits ausgereist ist. Seit dem 14. August wurden etwa 120.000 Menschen aus Afghanistan herausgebracht. Laut Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) wurden bisher 110 österreichische Staatsbürger und Menschen mit gültigem Aufenthaltstitel aus Afghanistan gebracht. Man bemühe sich weiterhin, Menschen außer Landes zu bringen.

Nach wie vor wollen zahlreiche Menschen Afghanistan verlassen. Der Luftweg wird zunehmend schwieriger. Mit dem bis Dienstag geplanten vollständigen Abzug der US-Streitkräfte endet auch die militärische Evakuierungsaktion. Dennoch arbeiten viele Staaten weiterhin daran, eine sichere Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas sucht in einer eilig organisierten Krisenmission durch mehrere Länder in der Region den direkten Kontakt zu Afghanistans Nachbarn, dass diese den Schutzsuchenden auf der deutschen Liste die Durchreise ermöglichen.

500 Mio. Euro zusätzlich für Flüchtlingshilfe

Usbekistan gab laut Maas bereits seine Zusage, die Ausreise von Deutschen, Ortskräften und Schutzbedürftigen aus Afghanistan zu unterstützen. Es gehe Deutschland nur um den Transit der Menschen, die von Usbekistan weiter nach Deutschland ausgeflogen werden sollen. Maas kündigte am Montag auch finanzielle Hilfe für die Nachbarländer Afghanistans an. Zusätzlich zu den bereits zur Verfügung gestellten 100 Mio. Euro für Hilfsorganisationen sollen weitere 500 Mio. Euro für Flüchtlingshilfe ausbezahlt werden.

Deutscher Außenminister Heiko Maas
Reuters/Annegret Hilse
Maas sucht Kontakt zu Nachbarländern Afghanistans

Das usbekische Außenministerium betonte, dass es Geflüchteten helfen würde, die sich zeitlich begrenzt im Land aufhalten und in anderen Staaten Schutz suchen. Zugleich wurden aber Berichte dementiert, dass der Grenzübergang auf der „Brücke der Freundschaft“ für afghanische Geflüchtete geöffnet sei: „Das Außenministerium verkündet erneut, dass die Republik Usbekistan keine afghanischen Flüchtlinge auf ihrem Territorium aufnimmt.“ Usbekistan unterhalte freundschaftliche Beziehungen zu Afghanistan und wolle sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einmischen.

UNO-Sicherheitsrat stimmt über Resolution ab

Per Videokonferenz trafen sich Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) mit Vertretern aus Deutschland, Dänemark, Griechenland und den zentralasiatischen Ländern Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan, um eine Einschätzung der Lage in der Region und die humanitäre Situation zu bekommen. Es müssten nun Maßnahmen ergriffen werden, um Migrationsströme nach Europa zu verhindern, so Nehammer. Abschiebungen in diese Länder seien ein wichtiges Thema, derzeit aber nachgereiht, sagte der Innenminister mit Blick auf die Nachbarländer Afghanistans. Vorerst gehe es aber um Vertrauen und Gespräche auf Augenhöhe.

UNO-Sicherheitszone gefordert

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) sehen nun vor allem die Vereinten Nationen gefordert und verlangen eine rasche Geberkonferenz auf UNO-Ebene.

Nehammer und Schallenberg sehen vor allem die UNO gefordert. Am Montag wollen UNO-Generalsekretär Antonio Guterres und die Vertreter der ständigen Sicherheitsratsmitglieder über eine Resolution für Afghanistan abstimmen. Laut einem Bericht von „Politico“ ist von der ursprünglich von Macron geforderten UNO-Sicherheitszone in Kabul im aktuellen Entwurf keine Rede mehr.

Dieser sehe nun vor, dass die Resolution „erwarte“, dass die Taliban ihre Zusage einhalten, dass Afghanen das Land verlassen dürfen. Zudem werde gefordert, dass der Flughafen Kabul sicher wieder geöffnet werde, berichtete das Magazin. Frankreich und Großbritannien hatten sich für eine Sicherheitszone eingesetzt.

Neue IS-Angriffe auf Flughafen

Wie es nach dem Abzug der US-Truppen mit dem Flughafen von Kabul weitergeht, ist nach wie vor offen. Montag gab es erneut Raketenangriffe der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die aber abgewehrt werden konnten. Nach Angaben der US-Regierung wurden fünf Raketen in Richtung des Airports abgefeuert. Drei seien außerhalb des Geländes gelandet, eine von einem Raketenabwehrsystem am Flughafen abgewehrt worden, sagte Generalmajor William Taylor am Vormittag (Ortszeit) im Pentagon.

US-Präsident Joe Biden sei über den Raketenangriff informiert worden, hieß es in einer Erklärung der Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jennifer Psaki. Der Präsident sei zudem informiert worden, dass die Operationen am Flughafen ununterbrochen fortgesetzt würden. Biden zufolge sollen die Kommandanten auf dem Flughafen in Kabul ihre Anstrengungen verdoppeln, um die Truppen zu schützen.

Biden hatte am Sonntag vor möglichen weiteren Anschlagen rund um den Flughafen Kabul gewarnt. Erst am Donnerstag waren bei einem Anschlag des IS am Flughafen mindestens 13 US-Soldaten und -soldatinnen sowie zwei Briten ums Leben gekommen. Die Angaben über die afghanischen Todesopfer schwanken, Sender wie CNN sprachen von bis zu 200 Toten.

Washington prüft Berichte über zivile Opfer

Die US-Regierung schließt indessen nicht aus, dass bei einem US-Luftangriff in Kabul Zivilisten getötet wurden. „Wir sind nicht in der Lage, das jetzt zu bestreiten“, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Montag. Man untersuche das weiter. Niemand wolle, dass Unschuldige zu Tode kämen, betonte Kirby. „Wir nehmen das sehr, sehr ernst, und wenn wir wissen, dass bei der Durchführung unserer Operationen unschuldige Menschen ums Leben gekommen sind, dann legen wir das offen.“

Das US-Militär hatte bereits am Wochenende erklärt, Berichte über mögliche zivile Opfer bei dem Angriff am Sonntag in Kabul zu prüfen. „Ich möchte dem nicht vorgreifen“, betonte Kirby. In dem bei dem Luftschlag zerstörten Fahrzeug habe sich „eine große Menge Sprengstoff“ befunden, „die womöglich zu weiteren Opfern führte“, hatte die US-Kommandozentrale für die Region (Centcom) für die Region mitgeteilt. Der US-Sender CNN und andere Medien berichteten von mindestens zehn toten Zivilisten, darunter auch Kinder.