US-Flugzeug nach dem Start vom Flughafen Kabul
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Afghanistan

Ungewisse Zukunft für Zurückgelassene

Der US-Truppenabzug und die Evakuierungsflüge aus Afghanistan sind am Montag offiziell abgeschlossen worden. Jetzt ist unklar, was aus jenen wird, die keinen Platz auf einem Evakuierungsflug ergattern konnten. Immer noch befinden sich Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen – bei den meisten davon handelt es sich um Afghanen.

Auch nach den letzten Evakuierungsflügen aus Afghanistan halten sich allerdings auch noch zahlreiche Briten und US-Bürger in dem Land auf. Der britische Außenminister Dominic Raab sagte am Dienstag dem Sender Sky News, es handle sich bei den Briten um eine „niedrige dreistellige“ Zahl. „Die meisten davon sind schwierige Fälle, in denen die Anspruchsberechtigung nicht klar ist, weil sie keine Papiere haben“, sagte Raab.

Es sei eine große Herausforderung, die Menschen aus dem Land zu bringen, nachdem die letzten alliierten Truppen aus Afghanistan abgezogen wurden. Raab betonte, die radikalislamischen Taliban hätten zugesagt, die Ausreise von Briten und afghanischen Schutzsuchenden nicht zu behindern. Seit April seien mehr als 17.000 Briten, afghanische Ortskräfte sowie Gefährdete ausgeflogen worden. Die britische Regierung arbeite nun mit Afghanistans Nachbarn an einem „praktikablen Weg“ für die Flucht britischer Staatsangehöriger. Er führe entsprechende Gespräche, sagte Raab.

Joe Biden
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US-Präsident Joe Biden versprach, alle US-Bürgerinnen und -Bürger aus Afghanistan zu bringen

Biden verspricht weiter Ausreisemöglichkeit

Nach Einschätzung des US-Außenministeriums sind noch zwischen 100 und 200 Amerikaner und Amerikanerinnen in Afghanistan, die das Land verlassen wollen. US-Präsident Joe Biden hatte allen ausreisewilligen US-Bürgern versprochen, sie aus Afghanistan herauszuholen. Biden und sein Außenminister Antony Blinken versicherten nach dem Abschluss des Truppenabzugs, die US-Regierung werde weiter alles daransetzen, im Land verbliebene US-Bürger, andere Ausländer und schutzbedürftige Afghanen aus dem Land zu holen – nun eben mit diplomatischen statt mit militärischen Mitteln. Doch wie genau das geschehen soll, ist unklar.

Antony Blinken
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US-Außenminister Antony Blinken muss jetzt diplomatische Beziehungen mit den Taliban ausloten

General Kenneth McKenzie, der zuständige US-Kommandeur für die Region, sagte, allein das US-Militär habe mehr als 79.000 Zivilisten aus Kabul ausgeflogen, darunter rund 6.000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam insgesamt mehr als 123.000 Menschen außer Landes gebracht. McKenzie betonte, nun sei kein einziger US-Soldat mehr in Afghanistan. Er räumte aber ein, es sei nicht gelungen, alle Menschen, die man in Sicherheit habe bringen wollen, auszufliegen. „Wir haben nicht alle rausgeholt, die wir rausholen wollten.“

Kohl (ORF) zum US-Abzug

Christophe Kohl kommentiert die Folgen des überhasteten Abzugs der US-Truppen aus Afghanistan auf Betreiben von Präsident Joe Biden.

Merkel: Fühlen uns den Ortskräften verpflichtet

Österreich brachte bisher 110 Staatsbürger bzw. Menschen mit Aufenthaltsberechtigung in Österreich außer Landes, wie Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) am Montag mitteilte. Weiterhin würden einige Dutzend auf die Ausreise warten. In vielen Fällen müssten zuerst die entsprechenden Dokumente überprüft werden.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass bis zu 40.000 frühere Mitarbeiter deutscher Stellen in Afghanistan auf ihre Ausreise nach Deutschland warten. Es gehe um „10.000 bis 40.000 Menschen“, die möglicherweise noch nach Deutschland gebracht werden müssten, sagte Merkel am Dienstag in Berlin. Dazu zählten ehemalige Ortskräfte sowie ihre Angehörigen.

Ihre genaue Zahl müsse noch geklärt werden: „Wir müssen das jetzt sichten, wie viele das Land verlassen wollen.“ „Wir fühlen uns den Ortskräften verpflichtet“, bekräftigte Merkel. Die Bemühungen für ihre Rettung sollten weitergehen. Die Lage nach dem Ende der Evakuierungsmission westlicher Streitkräfte bezeichnete sie als „schmerzlich“. Die deutsche Bundeswehr hat in der Evakuierungsphase mehr als 5.000 Menschen ausgeflogen.

UNO setzt humanitären Einsatz fort

Die Vereinten Nationen setzen ihren humanitären Einsatz in Afghanistan nach dem US-Abzug nach Angaben des UNO-Nothilfebüros (OCHA) unvermindert fort. Ein Versorgungsflug der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erreichte am Montag Mazar-e Sharif, zwei weitere Flüge seien in den nächsten Tagen geplant, sagte eine WHO-Sprecherin am Dienstag in Genf. Das Welternährungsprogramm (WFP) wolle eine humanitäre Luftbrücke aufrechterhalten, sagte eine UNO-Sprecherin. Die Flugzeuge sollen auch Kabul anfliegen. Sie würden sowohl Material ins Land bringen als auch Menschen ausfliegen.

US-Truppen aus Afghanistan abgezogen

In der Nacht auf Dienstag haben die letzten US-Soldaten Afghanistan verlassen. Das Militär der Vereinigten Staaten hatte in den vergangenen 20 Jahren Kräfte dort stationiert. Die Evakuierungsmission ist damit zu Ende.

„Die Armeen sind abgezogen, die Vereinten Nationen bleiben“, sagte OCHA-Sprecher Jens Laerke in Genf. Die UNO und ihre Partnerorganisationen versorgten unter anderem Kliniken mit Material und Medikamenten sowie Bedürftige mit Nahrungsmitteln. Im Land seien 3,5 Millionen Menschen vertrieben. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) habe einige Bewegungen in Richtung Grenzen beobachtet, es sei aber zu früh, um zu sagen, ob mehr Menschen auf dem Landweg das Land verlassen wollen, sagte UNHCR-Sprecher Andrej Mahecic. „Afghanistan bleibt eine Krise von intern Vertriebenen.“

Foto von letztem Soldaten veröffentlicht

Nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August hatten die USA und ihre internationalen Partner mit der militärischen Evakuierungsmission begonnen. Es war eine ungewöhnliche Art und Weise, wie das Ende von Amerikas längstem Krieg verkündet wurde. Der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, Präsident Biden, tat das am Montag nicht selbst, sondern schickte einen seiner höchsten Generäle vor. In einer knappen Videoschaltung mit Journalisten im Pentagon sagte General McKenzie am Montagnachmittag (Ortszeit): „Ich bin hier, um die Vollendung unseres Abzugs aus Afghanistan zu verkünden.“

Taliban feiern US-Abzug

Die USA haben in der Montagnacht ihren Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen. Die Taliban haben nun auch die vollständige Kontrolle über den Flughafen in Kabul übernommen, die militärische Luftbrücke zum Ausfliegen von Menschen aus Afghanistan ist beendet.

Eine Minute vor Mitternacht hob am späten Montag (Ortszeit) laut McKenzie das letzte US-Militärflugzeug vom Typ C-17 vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt ab. Die Amerikaner hatten zuvor dazu geschwiegen, wie genau der sicherheitstechnisch heikle Rückzug ihrer allerletzten Soldaten ablaufen werde. Die Sicherheitslage war bis zum Schluss prekär: Kurz vor dem Abzug hatte der afghanische Ableger der Terrormiliz IS Raketen auf den Kabuler Flughafen abgefeuert.

Erst nachdem die letzte Maschine des US-Militärs den afghanischen Luftraum verlassen hatte, veröffentlichte das Pentagon ein Bild des „letzten amerikanischen Soldaten“, der Afghanistan verlässt. Auf dem Foto ist – aufgenommen mit einem Nachtsichtgerät – zu sehen, wie Generalmajor Chris Donahue jene letzte C-17 besteigt.

Die Lage in Afghanistan

ORF-Journalist Johannes Marlovits spricht über den US-Truppenabzug aus Afghanistan, dessen Auswirkungen auf das Land und die Situation jener Menschen, die im Flughafen von Kabul auf eine Ausreise gehofft haben.

Blinken: Taliban müssen sich Legitimität verdienen

US-Außenminister Blinken betonte: „Die Militärmission ist beendet. Ein neue diplomatische Mission hat begonnen.“ Diese wird jedoch aus der Ferne zu steuern sein. Denn mit dem Abzug der US-Truppen gaben die Amerikaner auch ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan auf. An Bord der letzten Militärmaschine war Ross Wilson, der bisherige US-Botschafter in Afghanistan. Blinken sagte, die USA hätten ihre diplomatischen Aktivitäten nun in Katars Hauptstadt Doha verlegt.

Eine Regierung unter Führung der Taliban muss sich nach den Worten von Blinken internationale Legitimität und Unterstützung verdienen. „Die Taliban können das tun“, sagte Blinken. Sie müssten dafür ihre Zusagen zur Reisefreiheit einhalten, Grundrechte respektieren und eine inklusive Regierung bilden. Sie dürften außerdem Terroristen keine Zuflucht gewähren und keine Racheaktionen gegen ihre Kontrahenten ausüben.

Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid
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Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid (M., mit Post-it in der Hand) verkündet den Sieg der Taliban auf dem Flughafen in Kabul

Die Taliban wollen nach eigenen Angaben „gute“ Beziehungen zu den USA. „Wir wollen gute Beziehungen zu den USA und der ganzen Welt haben“, sagte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid am Dienstag bei einer Rede auf dem Flughafen von Kabul. „Wir begrüßen gute diplomatische Beziehungen mit allen.“ Mujahid beglückwünschte die Afghanen zu ihrem „Sieg“. „Glückwunsch an Afghanistan, dieser Sieg gehört uns allen“, sagte Mujahid, der auf der Landebahn des Kabuler Flughafens stand.

Taliban sprechen mit Türkei und Katar über Flughafen

Blinken kündigte indes an, die USA würden weiterhin humanitäre Hilfe für die Afghanen leisten. Diese Hilfe werde aber nicht über die Taliban-Regierung erfolgen, sondern über unabhängige Organisationen wie die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen. „Wir erwarten, dass diese Bemühungen nicht durch die Taliban behindert werden.“

Die Taliban führen nach französischen Regierungsangaben mit Vertretern Katars und der Türkei Gespräche über die Steuerung des Flughafens von Kabul. „Wir müssen einen sicheren Zugang zum Flughafen verlangen“, sagte der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian dem TV-Sender France 2. Auf die Taliban müsse weiter Druck ausgeübt werden. Frankreich verhandle aber nicht mit ihnen.