Innenminister Karl Nehammer in Brüssel
APA/AFP/François Walschaerts
Flüchtlinge aufnehmen?

Keine EU-Linie bei Umgang mit Afghanistan

Die EU-Staaten haben sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen bezüglich Migranten aus Afghanistan geeinigt, die nach der Machtergreifung der Taliban als gefährdet gelten. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, sagte am Dienstag schon vor dem Innenminister-Treffen, die EU solle Frauen, Kinder, Richter, Journalisten und Menschenrechtler aufnehmen, die nun in Gefahr seien. Dem widersprach unter anderen Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Einig war man sich jedenfalls darüber, dass eine Situation wie 2015 vermieden werden soll.

„Anreize zur illegalen Migration sollten vermieden werden“, heißt es in einer am Dienstag bei dem Sondertreffen der Innenminister verabschiedeten Erklärung. Vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen seien die EU und ihre Mitgliedstaaten entschlossen, eine Wiederholung von großen und unkontrollierten illegalen Migrationsbewegungen zu verhindern.

Um eine ähnliche Entwicklung wie in der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/2016 nach der Machtübernahmen der Taliban in Afghanistan zu vermeiden, soll laut der Erklärung nun sichergestellt werden, dass notleidende Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft Afghanistans angemessen Schutz erhalten.

Zudem werden unter anderem gezielte Informationskampagnen gegen die Narrative von Menschenschmugglern als geeignetes Instrument genannt. Die Ansiedlung schutzbedürftiger Afghaninnen und Afghanen soll nur dann erfolgen, wenn EU-Staaten dafür freiwillig Plätze anbieten.

EU uneinig über Aufnahme von Afghanen

Die EU-Innenminister sind sich einig beim Thema Sicherheit: Grenzen sollen besser geschützt, Schlepperei effektiver bekämpft werden. Uneinigkeit herrscht bei der Aufnahme von Migranten.

Österreich mit Tschechien und Dänemark einig

„Es braucht die Freiwilligkeit“, hatte Nehammer in Hinblick auf mögliche EU-Umsiedlungspläne (Resettlement) für afghanische Flüchtlinge gesagt. Aber so lange Österreich eine „so hohe Belastung durch irreguläre Migration“ habe, finde er es „völlig unangemessen, über Resettlement zu reden“. Seinen Angaben zufolge beheimatet Österreich weltweit die viertgrößte afghanische Community. Wenn die EU es einmal schaffe, „sichere Außengrenzen zu haben, dann kann man über andere Programme nachdenken“, so der Innenminister weiter.

Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin und Innenminister Karl Nehammer
AP/Virginia Mayo
Karl Nehammer bei Beratungen mit seinem französischen Amtskollegen Gerald Darmanin

Erneut kritisierte er EU-Kommisssarin Johansson wegen ihrer „verwaschenen Botschaften“: „Wenn wir sagen, es braucht Hilfe vor Ort, kann ich nicht gleichzeitig von sicheren Fluchtrouten nach Europa sprechen“, so Nehammer. Unterstützung bekam Nehammer dabei von seinen Kollegen aus Tschechien und Dänemark, Jan Hamacek und Mattias Tesfaye in einem gemeinsamen Statement vor dem Treffen.

„Sehr emotionale Diskussion“

Internationale Organisationen sollten mit „möglichst vielen Ressourcen“ unterstützt werden – dabei habe es „eine große Bereitschaft“ unter den EU-Staaten gegeben, berichtete Nehammer. Die Initiative Österreichs, den Dialog mit den nördlichen Nachbarstaaten Afghanistans zu starten, ist ihm zufolge „wohlwollend“ unter den Mitgliedsländern aufgenommen worden.

Auch gebe es zwei „wichtige Partner, die nicht vergessen werden dürfen“: Pakistan und, wenn auch „diplomatisch sensibel“, der Iran. „Prioritär“ seien zudem die Sicherheitsinteressen. „Wir müssen wissen, wer zu uns gekommen ist“, sagte Nehammer mit Blick auf die Evakuierungen aus Afghanistan in den vergangenen Tagen. Der ÖVP-Politiker sprach von einer „sehr emotionalen Diskussion“ bei dem Treffen.

Seehofer für gemeinsame Asylpolitik

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sprach sich gegen konkrete Kontingente für schutzbedürftige Menschen aus. „Ich halte es nicht für sehr klug, wenn wir jetzt hier über Zahlen reden, weil Zahlen natürlich etwas auslösen“, sagte der CSU-Politiker vor dem EU-Treffen. Man wolle keinen „Pull-Effekt“ auslösen. Zugleich betonte Seehofer, dass die deutsche Regierung immer Ansiedlungsprogramme für besonders „geschundene Personen“ mit vereinbart habe. Auch werbe er „ausdrücklich dafür, dass sich alle Länder an einer gemeinsamen Asylpolitik beteiligen“. Dazu war Österreich „bislang leider nicht bereit“, fügte Seehofer hinzu.

Der slowenische Innenminister Ales Hojs sprach sich gegen humanitäre Korridore für Afghanistan aus. Bezüglich der Aufnahme von schutzbedürftigen Afghanen betonte er, dass die slowenische Regierung bereits beschlossen habe, an der Umsiedlung von Mitarbeitern der EU und NATO, die sich in Spanien befinden, teilzunehmen. Jegliche andere Umsiedlungspläne lehnte er aber ab. „Wir sind insbesondere nicht bereit, jene Männer aufzunehmen, die aus dem Land flüchten, anstatt zu Hause die Frauen und Kindern zu beschützen“, sagte er laut Nachrichtenagentur STA.

Asselborn sorgt mit Österreich-Kritik für Wirbel

Für Wirbel hatte zuvor Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn gesorgt, er rief zum Widerstand gegen den EU-Vorsitz Slowenien und Österreich auf. „Ich hoffe, dass es Widerstand gibt gegen Herrn Kurz aus Österreich und Herrn Jansa aus Slowenien, die sich beide klar und definitiv im Einklang mit Orban, Salvini und Le Pen befinden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag-Ausgabe).

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und der slowenische Regierungschef Janez Jansa würden genauso wie der ungarische Regierungschef Viktor Orban und die rechtspopulistischen Politiker in Italien und Frankreich, Matteo Salvini und Marine Le Pen, eine „direkte menschliche Solidarität in diesem extrem dramatischen Moment mit dem gefolterten Volk in Afghanistan“ ablehnen, so der luxemburgische Sozialdemokrat.

Auch Seehofer weist Kritik zurück

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) wies die Kritik mit Verweis auf die 40.000 in Österreich lebenden Afghanen als „absurd“ zurück und warf Asselborn „billigen Populismus“ vor. Ähnlich äußerte sich auch Nehammer. „Hier verspielt sich gerade der Herr Asselborn seinen guten Ruf, weil es wäre hier wichtig, faktenbasiert zu diskutieren“, so Nehammer.

Kritik an Asselborn kam auch vom deutschen Innenminister Horst Seehofer. „Herr Asselborn sollte ein bisschen stärker die Probleme betrachten, die die großen Länder in der Europäischen Union haben“, sagte er. Man rede hier nicht über ein paar hundert Personen, sondern über viele tausend, die jetzt schon in Deutschland seien. Luxemburg sei bei diesen Dingen immer mit sehr kleinen Zahlen konfrontiert.

Kurz auf Abschiedsbesuch bei Merkel

Das Thema Afghanistan stand am Dienstag aber auch bei einem ganz anderen Event im Vordergrund: beim Abschiedsbesuch von Bundeskanzler Kurz bei Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die nach 16 Jahren aus dem Amt scheidet. Sowohl Kurz als auch Merkel betonten in Berlin, sie setzten auf humanitäre Hilfe, damit afghanische Flüchtlinge „in der Nähe ihrer Heimat“ versorgt werden können, wie die Kanzlerin es formulierte. Kurz sagte, Österreich habe die humanitäre Hilfe in der Region „aufgestockt, wie wir es noch nie getan haben“. Man leiste einen „überproportional großen Beitrag“. Gleichzeitig sei man „in intensivem Kontakt mit den Vertretern der (an Afghanistan, Anm.) angrenzenden Staaten“ über die Versorgung von Flüchtlingen.

In der Frage einer möglichen Asylgewährung für afghanische Flüchtlinge in Österreich selbst verwies Kurz jedoch erneut auf die Flüchtlingsaufnahme im Jahr 2015: „Wir haben pro Kopf gerechnet die viertgrößte afghanische Community weltweit.“ Seine Haltung zu dieser Frage sei „bekannt“.

Aufenthaltsrecht für Ortskräfte in Deutschland

Merkel dagegen unterstrich erneut die Bereitschaft ihrer Regierung, Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland zu bringen, falls sich diese unter der neuen Herrschaft der radikalislamischen Taliban bedroht fühlten. Diese würden dann auch in Deutschland umgehend ein Aufenthaltsrecht bekommen – ohne Asylverfahren, betonte sie. Über etwaige Kontingente gebe es noch „keine Beschlüsse“, es gehe aber um „10.000 bis 40.000 Menschen“, die möglicherweise noch in die Bundesrepublik gebracht werden müssten. Ihre genaue Zahl müsse noch geklärt werden: „Wir müssen das jetzt sichten, wie viele das Land verlassen wollen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundeskanzler Sebastian Kurz
APA/Georg Hochmuth
Kurz dankte Merkel „für die enormen Leistungen, die hier für die EU weit über Deutschland hinaus erbracht worden sind“

Merkel ist nach eigenen Angaben mit mehreren europäischen Ländern im Gespräch über die Frage, „wie wir gegebenenfalls auch eine temporäre stärkere Präsenz in Kabul oder der Region haben können, um kontinuierliche Gesprächskontakte mit den Taliban überhaupt aufbauen zu können“. Das solle aber keinesfalls auf eine diplomatische Anerkennung der Taliban-Machthaber hinauslaufen, sagte Merkel. „Es geht einfach nur darum, Diplomaten in der Nähe zu haben, die mit den Taliban reden können.“ Die Taliban seien derzeit dabei, ihre Präsenz aus dem Exil in Katar nach Kabul zu verlagern.

Lobende Worte und ein Dauerabo für Salzburg

Kurz würdigte zum Abschied noch den Einsatz von Merkel für Europa. Besonders geschätzt habe er den „unglaublichen Erfahrungsschatz, den Angela Merkel in all die Diskussionen und Debatten eingebracht hat“, sagte Kurz am Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel in Berlin. Der Europäische Rat verliere mit Merkel „eine Regierungschefin, die die Europäische Union so gestaltet und geprägt hat wie keine andere“.

Auch bilateral wolle er sich für die gute Zusammenarbeit bedanken. In sehr vielen Fragen habe man an einem Strang gezogen, sagte Kurz. Als Abschiedsgeschenk reichte er der musikbegeisterten Merkel eine Dauereinladung für die Salzburger Festspiele auf Lebenszeit. Außerdem erhielt sie eine CD-Box, die zum 100. Jubiläum des Festivals 2020 erschienen ist.