US-Präsident Joe Biden
Reuters/Carlos Barria
„Aus Fehlern lernen“

Biden rechtfertigt Abzug aus Afghanistan

Nach dem kompletten Abzug aller US-Soldaten aus Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden seine umstrittene Entscheidung erneut verteidigt. Der Truppenabzug zum 31. August sei nicht auf eine „willkürliche Frist“ zurückzuführen, sagte Biden am Dienstag bei einer Ansprache im Weißen Haus. „Sie war so ausgelegt, um amerikanische Leben zu retten.“

Sein Amtsvorgänger Donald Trump habe eine Vereinbarung mit den Taliban geschlossen und den Abzug der US-Truppen zugesagt. Er selbst habe die Wahl gehabt, daran festzuhalten oder Zehntausende weitere US-Soldaten nach Afghanistan zu schicken und den Einsatz fortzusetzen. Die USA hätten allein die Wahl gehabt, das Land zu verlassen oder den Konflikt zu eskalieren.

Er habe den Krieg nicht ewig verlängern wollen, betonte Biden. Und er habe auch den Abzug nicht ewig verlängern wollen. „Es war an der Zeit, diesen Krieg zu beenden.“ Und er fügte hinzu: Der Krieg hätte „schon vor langer Zeit beendet werden müssen“.

Kein „geordneter“ Abzug möglich?

Der Präsident wies auch erneut Kritik zurück, der Abzug hätte geordneter abgewickelt werden können. Biden wertete die „Herausforderungen“, mit denen man bei dem Abzug konfrontiert gewesen seien, als unvermeidbar. Biden sagte, er übernehme die Verantwortung für den Rückzug der USA aus Afghanistan, der dramatisch, tödlich, chaotisch, frustrierend und tragisch für die Zurückgebliebenen gewesen sei.

Er fügte aber hinzu, dass er „respektvoll widersprechen“ würde, wenn man der Meinung sei, dass es in den 17 Tagen seit der Übernahme der Macht durch die Taliban eine Möglichkeit gegeben hätte, „geordneter abzuziehen“. Eigene Fehler beim Abzug der US-Soldaten räumte Biden nicht ein.

Abzug wird zum Debakel für Biden

Vor 20 Jahren marschierten die USA in Afghanistan ein, um nach den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 al-Kaida aus ihren Verstecken zu jagen; und ihre Unterstützer, die islamistische Taliban-Diktatur, zu stürzen. Zwei Jahrzehnte später ziehen die USA überhastet wieder ab und die Taliban übernehmen wieder die Macht.

Taliban-Zusagen für weitere Ausreisen

Der Präsident nannte den Evakuierungseinsatz einen „außergewöhnlichen Erfolg“. Neunzig Prozent der Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollten, seien dazu in der Lage gewesen, sagte Biden. Es werde davon ausgegangen, dass sich noch 100 bis 200 mehr oder weniger ausreisewillige US-Bürger in Afghanistan aufhielten. Diesen will die US-Regierung auch nach dem Abzug des Militärs helfen, das Land zu verlassen. „Es gibt dafür keine Frist“, versprach er. Die meisten zurückgebliebenen seien doppelte Staatsbürger und hätten eine langfristige Bindung an Afghanistan. Das US-Militär habe seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August erfolgreich rund 5.500 US-Bürger aus dem Land evakuiert, betonte er.

US-Präsident Joe Biden
Reuters/Carlos Barria
Biden bei seiner Rede im Weißen Haus

Darüber hinaus setzten sich die USA zusammen mit der internationalen Gemeinschaft weiter dafür ein, dass ausreisewillige Afghaninnen und Afghanen und westliche Staatsbürger das Land ungehindert verlassen dürften, sagte Biden. Die Taliban hätten das zugesagt, und die USA würden dahingehend Druck ausüben. Wohl mit Blick auf humanitäre Hilfen sagte Biden: „Wir haben Druckmittel sicherzustellen, dass diese Versprechen eingehalten werden.“

Kritik an afghanischer Regierung

Biden machte erneut die frühere afghanische Regierung und die Sicherheitskräfte des Landes für die Machtübernahme der Taliban verantwortlich. Die afghanischen Sicherheitskräfte seien entgegen den Erwartungen kein starker Gegner im Kampf gegen die Taliban gewesen, so Biden. Die afghanische Regierung sei kollabiert, Präsident Ashraf Ghani sei außer Landes geflohen. Sie hätten damit „das Land ihren Feinden übergeben, den Taliban“. Damit sei die Gefahr für die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten gestiegen.

Politologe Werz: Abzug „für Biden GAU“

Die Politologen Magdalena Kirchner und Michael Werz kommentieren den Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan. Laut Werz hat US-Präsident Biden den überhasteten Rückzug einsam beschlossen. Diese grobe politische Fehlkalkulation werde ihn noch jahrelang belasten.

„Aus Fehlern lernen“

Biden kündigte auch weitreichende Konsequenzen für künftige militärische Einsätze an. „Wir müssen aus unseren Fehlern lernen“, sagte er. „Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“ Künftige Einsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben. Sie müssten sich außerdem „auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse“ der USA konzentrieren.

Biden sagte, in Afghanistan hätten die USA erlebt, wie eine Mission zur Terrorismusbekämpfung sich in einen Einsatz zur Aufstandsbekämpfung, zum Aufbau einer Nation und zur Schaffung eines demokratischen, zusammenhängenden und geeinten Landes verwandelt habe. Das sei „etwas, das in der jahrhundertelangen Geschichte Afghanistans nie erreicht wurde“. Der Präsident fügte hinzu: „Wenn wir diese Denkweise und diese Art von großangelegten Truppeneinsätzen hinter uns lassen, werden wir zu Hause stärker, effektiver und sicherer sein.“

Kampfansage an IS

Der US-Präsident kündigte an, dass die USA weiter gegen den örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgehen würden. Er warnte die Gruppe, die sich zum jüngsten Anschlag nahe dem Flughafen in Kabul bekannt hatte, die USA würden sie weiter verfolgen. „Wir sind mit Euch noch nicht fertig“, sagte Biden.

Der Kampf gegen den Terror gehe auch nach dem Abzug aus Afghanistan weiter, wenn auch ohne Bodentruppen. Er verwies auf die Fähigkeit der USA zu Drohnenangriffen. Die USA würden Terroristen, die das Land angriffen, „bis zum Ende der Welt jagen und fassen“, sagte Biden. „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen.“ Und man werde „das afghanische Volk weiterhin durch Diplomatie und Engagement unterstützen“.

Neue außenpolitische Prioritäten

Biden verwies auch auf eine Veränderung der Prioritäten der US-Politik: „Die Welt verändert sich. Wir stehen in einem ernsthaften Wettbewerb mit China, wir haben es mit den Herausforderungen an mehreren Fronten mit Russland zu tun, wir sind mit Cyberangriffen und der Verbreitung von Atomwaffen konfrontiert.“ Diese neuen Herausforderungen gelte es zu meistern. Die USA könnten auch beides: „den Terrorismus bekämpfen und uns neuen Bedrohungen stellen“. Und er fügte hinzu, dass Russland oder China in diesem Wettbewerb nichts lieber hätten, als „dass die USA für ein weiteres Jahrzehnt in Afghanistan feststecken“.

Einsatz nach 20 Jahren zu Ende

Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen. Biden hatte im Juli angekündigt, dass alle US-Truppen bis zum 31. August abgezogen werden. Nach der Abzugsankündigung hatte der Siegeszug der Taliban rasant an Tempo zugelegt. Mitte August übernahmen die Islamisten, deren Regime der US-geführte Einsatz Ende 2001 gestürzt hatte, wieder die Macht.

Seitdem versuchten die USA und ihre Verbündeten mit allen Kräften, eigene Staatsbürger und afghanische Mitarbeiter außer Landes zu fliegen. Auch die Evakuierungsmission endete in der Nacht zu Dienstag.