Taliban am Flughafen Kabul
Reuters
Feind und Partner

Verhandeln mit den Taliban

Die USA sind abgezogen, seit Mittwoch bestimmen die radikalislamischen Taliban die Geschicke Afghanistans. Der Westen überlegt sich indes, wie er mit der Regentschaft der radikalen Islamisten umgehen soll. So spricht Deutschland von einer diplomatischen Vertretung in Kabul, Großbritannien ist weiter in Verhandlung über die Ausreise seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Nicht zuletzt haben die USA und die Taliban denselben Feind: den IS-Ableger IS-K.

US-Präsident Joe Biden kündigte in seiner Ansprache Dienstagabend an, dass die USA weiter gegen den örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), IS-K, vorgehen würden. Er warnte die Gruppe, die sich zum jüngsten Anschlag nahe dem Flughafen in Kabul bekannt hatte, die USA würden sie weiter verfolgen. „Wir sind mit euch noch nicht fertig“, sagte Biden. Doch wenn die USA den IS eindämmen wollen, brauchen sie Insiderinformationen und Verbündete im Land.

Die Taliban, die sich immer noch bemühen, die Kontrolle über die vielen abgelegenen Winkel des Landes zu verteidigen, benötigen wiederum womöglich amerikanische Luftstreitkräfte, um den IS zu besiegen. Diese Kombination sei auch für den Sieg über den Islamischen Staat im Irak von entscheidender Bedeutung gewesen, schrieb die „New York Times“ („NYT“) am Dienstag.

„Frage des gegenseitigen Interesses“

„Es ist keine Frage des Vertrauens, es ist eine Frage des gegenseitigen Eigeninteresses“, kündigte der US-Präsident zu Afghanistan bereits an und vermittelte damit den Eindruck, er mache sich bereit, mit den Taliban zu verhandeln. CNN berichtete am Mittwoch, die Taliban hätten US-Streitkräfte in den letzten Stunden zum Flughafen in Kabul eskortiert, ihnen also eine mehr oder minder sichere Abreise gewährleistet.

US-Truppenabzug vom Flughafen Kabul
Reuters/U.S. Army/Master Sgt. Alex Burnett
Am Dienstag flogen die USA ein letztes Mal aus Kabul ab

Ein Soldat habe gegenüber dem Sender über ein „geheimes Tor“ gesprochen, das die Taliban für die USA eingerichtet haben sollen. Auch soll es eine Art Callcenter geben, wo US-Soldatinnen und -Soldaten mit den Taliban bis zuletzt kommunizieren konnten. Laut US-Außenminister Antony Blinken befinden sich noch rund 200 US-Amerikanerinnen und -Amerikaner in Afghanistan, Ortskräfte dürften es weitaus mehr sein.

Was passiert mit den Währungsreserven?

Doch Washington sieht Afghanistan nicht bloß als potenziellen Zufluchtsort für internationale Terroristen, sondern auch als Schauplatz zweier drohender Katastrophen – der Taliban-Herrschaft und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs –, die jeweils weit über die Grenzen des Landes ausstrahlen könnten.

Eine offene Frage für die USA ist etwa auch, ob 9,4 Milliarden Dollar (rund acht Mrd. Euro) an Währungsreserven der afghanischen Regierung, die in den Vereinigten Staaten eingefroren sind, freigegeben werden sollen. Den Taliban Milliarden zu geben würde bedeuten, die Maschinerie ihrer radikalislamischen Herrschaft zu finanzieren. Eine Zurückhaltung des Geldes würde jedoch die Währungskrise vorantreiben und einen Importstopp für Lebensmittel und Treibstoff nach sich ziehen. Die afghanische Zivilbevölkerung, die die USA zu schützen versprochen hatten, müsste noch stärker leiden.

London kämpft weiter um Ausreise von Briten

Die Taliban, die verzweifelt nach ausländischer Unterstützung suchen, betonten, dass sie Beziehungen zu Washington wie zu anderen westlichen Staaten aufbauen wollen. So verhandelt die britische Regierung zurzeit mit den Taliban über eine sichere Ausreise von Briten und afghanischen Ortskräften.

Der Sonderbeauftragte von Premierminister Boris Johnson, Simon Gass, sei zu Gesprächen mit führenden Vertretern der Taliban in die katarische Hauptstadt Doha gereist, sagte ein Regierungssprecher in London in der Nacht auf Mittwoch. Es gehe darum, „die Bedeutung einer sicheren Ausreise für britische Staatsangehörige und die Afghanen, die in den vergangenen 20 Jahren mit uns zusammengearbeitet haben, zu unterstreichen“.

Ortskräfte dürfen dauerhaft in Großbritannien bleiben

Zudem verstärkt das britische Außenministerium vorübergehend seine Botschaften in den afghanischen Nachbarländern Pakistan, Usbekistan und Tadschikistan. Spezialisten sollen die Diplomatinnen und Diplomaten dabei unterstützen, Menschen über Landgrenzen in Sicherheit zu bringen. Außenminister Dominic Raab hatte am Dienstag gesagt, dass sich noch eine „niedrige dreistellige“ Zahl an Britinnen und Briten in Afghanistan aufhalte.

Das Innenministerium änderte seine Regeln für afghanische Ortskräfte und ihre Familien, die in ihrer Heimat unter der Taliban-Herrschaft nun in Gefahr sind. Afghaninnen und Afghanen, die für das britische Militär sowie die britische Regierung gearbeitet haben, dürfen dauerhaft nach Großbritannien ziehen. Bisher waren nur fünf Jahre Aufenthalt erlaubt. Nach Angaben von Raab hat die britische Regierung in den vergangenen zwei Wochen mehr als 17.000 britische und afghanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus dem Krisenland ausgeflogen.

Deutschland schickt Botschafter vor

Auch Deutschland überlegt eine weitere Zusammenarbeit mit Afghanistan. Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte es in ihrer Regierungserklärung folgendermaßen: "Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan. Diese neue Realität ist bitter, aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen." Außenminister Heiko Maas hatte aber deutlich gemacht, dass ein Kennenlerntreffen mit den Taliban für ihn erst einmal nicht infrage kommt. Stattdessen schickte er Botschafter Markus Potzel in Doha zu den Verhandlungen. Er ist laut dpa in ständigem Austausch mit den Taliban per WhatsApp.

Deutschland hat ebenfalls noch das Interesse, mehr als 40.000 Menschen auszufliegen – darunter noch Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, aber vor allem Ortskräfte. Einen ersten Erfolgt gibt es bereits. Die Taliban haben der dpa zufolge, die Potzel zitiert, vergangene Woche sicheres Geleit für die Schutzsuchenden zugesagt. „Ob man sich darauf verlassen kann, wird man, glaube ich, erst in den kommenden Tagen und auch Wochen sehen“, sagte Maas.

„Bedürfnis nach diplomatischer Präsenz“

„Es gibt ein großes Bedürfnis nach diplomatischer Präsenz“, so der deutsche Außenminister. „Wenn es politisch möglich wäre und wenn die Sicherheitslage es erlaubt, dann sollte auch Deutschland in Kabul wieder eine eigene Botschaft haben.“ Zurzeit sei man in enger Abstimmung vor allem mit den europäischen Partnern zu diesem Thema.

Erst will man aber abwarten, wen die Taliban zu ihrer Regierung machen. Sollten auch andere Bevölkerungsgruppen als die Taliban selbst repräsentiert sein, würde das als positives Zeichen gewertet. Die Wiederöffnung der Botschaft wäre aber nicht mit einer Anerkennung der Regierung gleichzusetzen. Es gebe noch keine exakten Informationen über den Zeitpunkt der Regierungsbildung, sagte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid der dpa am Mittwoch. Auch ob Taliban-Führer Hibatullah Akhundzada erstmals nach der Machtübernahme der Islamisten öffentlich auftreten werde, ließ er offen. „Wir warten“, so Mujahid.

In Katar befindet sich das Hauptquartier der Taliban. 2013 spielte es eine wichtige Rolle bei den Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der US-amerikanischen und afghanischen Regierung. Nun finden dort erneut internationale diplomatische Gespräche statt. Berichten zufolge überlegen die Taliban aber, die Zentrale zurück nach Afghanistan zu verlegen.