Soldaten der „Nordic Battlegroup“ vor einem Blackhawk-Hubschrauber
APA/AFP/Jonathan Nackstran
EU-Eingreiftruppe

Fiasko in Kabul feuert Kontroverse an

Das entwaffnende Scheitern in Afghanistan hat die Debatte über eine eigene Eingreiftruppe der EU wieder angefacht. Beim Treffen der europäischen Verteidigungsminister und -ministerinnen in Slowenien kamen dabei die unterschiedlichen Positionen zutage. Über dem Wie, Wozu und Wer schwebt vor allem die Frage, inwiefern die EU tatsächlich militärisch aktiv sein soll.

Das erklärte Ziel des Treffens im slowenischen Brdo, an dem auch Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) teilnahm, war es, Lehren aus dem Debakel in Afghanistan zu ziehen. Kaum ein früheres Ereignis zeigte der Europäischen Union derart die eigene militärische Handlungsunfähigkeit auf. Die USA setzten die Frist für den Abzug, alle anderen Staaten mussten sich beugen, obwohl noch nicht alle infrage kommenden Menschen aus Kabul in Sicherheit gebracht worden waren.

„Afghanistan hat gezeigt, dass die Defizite in unserer strategischen Autonomie ihren Preis haben“, so Josep Borrell nach den Beratungen. Der EU-Außenbeauftragte und die Verteidigungsminister und -ministerinnen sprachen in Slowenien über einen „strategischen Kompass“, der die militärischen Bedrohungen und Ziele der EU für die kommenden Jahre skizzieren soll. Ein Entwurf soll bis 16. November vorliegen, so Borrell am Donnerstag. Darin wird dann auch ein schnelle Eingreiftruppe Thema sein. Man müsse autonom handeln können, wenn nötig – auch wenn sich andere, etwa die USA, nicht einmischen wollen. „Dazu gibt es keine Alternative“, sagte Borrell. Die Debatte dreht sich freilich auch darum, ob die Truppe auf lange Sicht zur eigenen EU-Armee anwachsen könnte.

Lehren ziehen aus Afghanistan-Einsatz

Europa will als Lehre aus dem Afghanistan-Desaster in Zukunft militärisch auf eigenen Beinen stehen. Beim Treffen der EU-Verteidigungsminister und -ministerinnen in Slowenien herrschte weitgehend Konsens über den Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe. Die Details sollen bis zum Spätherbst erarbeitet werden.

Keine Einigkeit

Derzeit wird jedoch über eine Truppe von zunächst rund 5.000 Soldatinnen und Soldaten geredet, die in kurzer Zeit in Krisenländer verlegt werden können. Der slowenische Ratsvorsitz schlug sogar eine weit größere Mannstärke vor. Nicht nur Borrell will die Eingreiftruppe vorantreiben, auch Deutschland und Frankreich unterstützen die Idee.

Für andere Mitgliedsländer wiederum stellt militärisches Eingreifen abseits der USA und der NATO ein Tabu dar. Polen und das Baltikum etwa wollen sich nicht von den westlichen Schutzmächten abkoppeln, die sich einer Bedrohung durch Russland entgegenstellen würden. Andere Länder befürchten, dass eigene militärische Handlungen die Beziehungen zu den USA verschlechtern könnten.

Eingerichtet, aber nie eingesetzt

Die Auffassungen über ein militärisches Handeln der EU sind derart unterschiedlich, dass schon die Pläne für die Eingreiftruppe seit zwei Jahrzehnten in der Schublade liegen. Immer wieder gab es Bemühungen, sie umzusetzen und auch zum Einsatz zu bringen, Konsens konnte aber nicht hergestellt werden. Eine schnelle Eingreiftruppe wurde schon 1999 diskutiert und eigentlich beschlossen, 2007 dann auch tatsächlich eingerichtet. Ein kampfbereites System von Gefechtsverbänden mit 1.500 Mann wurde aufgestellt, aber nie eingesetzt. Zu groß waren die Auffassungsunterschiede über Finanzierung, Einsatzgrund und Ziel.

Kooperation in EU

Auf EU-Ebene gibt es bereits eine ständige militärische Zusammenarbeit (PESCO), an der sich auch Österreich beteiligt. Sie soll den EU-Mitgliedsstaaten ermöglichen, im Bereich der Sicherheit und Verteidigung enger zusammenzuarbeiten. Dafür wurden 46 Projekte formuliert, vom gemeinsamen Hubschraubertraining bis hin zum Tauchen. PESCO dient aber nicht dazu, sich von den USA militärisch zu emanzipieren, neben Norwegen und Kanada sind die USA sogar Teil davon.

Dass nun sogar größere Truppen formiert werden sollen, scheint den Gegnern des Vorschlags vollkommen unrealistisch. Diese schon existierenden Verbände könnten aber die Basis der neuen Eingreiftruppe bilden, das ist zumindest die Hoffnung der Proponenten.

Rufe gegen „militärische Abenteuer“

Die Skepsis in Europa gegen eigenes militärisches Handeln ist weiterhin groß, in Österreich und anderen Mitgliedsstaaten. „Die EU hat keinen Grund, sich außerhalb ihrer Grenzen in militärische Abenteuer zu verstricken. Daher braucht sie auch keine schnelle Eingreiftruppe, die die Speerspitze solcher Aktionen bilden würde“, so Harald Vilimsky, freiheitlicher Delegationsleiter im Europaparlament, in einer Aussendung. Das neutrale Österreich dürfe sich nicht hineinziehen lassen, so Vilimsky.

„Die EU ist kein glaubwürdiger Ersatz für das, was die NATO repräsentiert“, so Kristjan Mäe vom estnischen Verteidigungsministerium gegenüber dem Nachrichtenportal Politico. „Sie werden bei den Mitgliedsstaaten keinen Appetit auf die europäische Armee sehen.“ Afghanistan sei auch kein Anlass, „Diskussionen über die Zukunft der europäischen Armee zu eröffnen“, sagte Jan Havranek, der stellvertretende tschechische Verteidigungsminister. „Das sind doch Schlagworte.“

Borrell aber sieht Afghanistan als Wendepunkt der festgefahrenen Debatte. „Manchmal gibt es Ereignisse, die die Geschichte katalysieren, einen Durchbruch schaffen, und ich denke, Afghanistan ist einer dieser Fälle“, sagte so Borrell in Slowenien. „Der Bedarf an mehr, stärkerer europäischer Verteidigung ist offensichtlicher denn je.“ Der Bedarf an Gesprächen aber auch – bei Fragen der Verteidigungs- und Außenpolitik der EU ist Konsens gefragt. Auch eine „Koalition der Willigen“, wie etwa von Deutschland ins Spiel gebracht, brauchte zuerst die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.