Akademietheater: Pandemie und Schweinereien

Mit Elfriede Jelineks neuem Stück „Lärm. Blindes sehen. Blinde sehen!" hat das Burgtheater am Wochenende seine Spielzeit eröffnet.

Kultregisseur Frank Castorf inszenierte – nach 1995 („Raststätte oder Sie machen’s alle“ in Hamburg) – das zweite Mal einen Text von Jelinek. In seiner Umsetzung multiplizieren sich die Stimmen der Pandemie zu einem wirren historischen Bogen: Von Odysseus’ Irrfahrten bis hin zur Verbreitung des Coronavirus in Ischgl, hier findet alles gleichzeitig statt, laut, chaotisch und heftig bejubelt.

Die Maske des Odysseus – nein, nicht der Mund-Nasen-Schutz, sondern die antike Maske – bietet in überdimensionaler Form originelle Möglichkeit, beim Apres-Ski noch einen zu heben. Im Interieur dieser Alpenbar, austapeziert mit dem typischen Schwertlilien-Muster (in westösterreichischen Tourismusgebieten besonders üblich), wird ausgiebig getrunken und schwadroniert.

Hohle Versprechen

Kranzförmig drehen sich Leuchtbuchstaben und werben für die Alpenbar mit Antike-Versprechen: „Tous pour un +++ Un pour tous“. Solidarität scheint das Gebot der Stunde, das Motto der „Drei Musketiere“ ist allerdings nur hohle Phrase.

Denn am Seiteneingang der Bar hängt die bei Regisseur Castorf häufig verwendete Coca-Cola-Werbung, Hinweis auf das eigentliche Interesse sowohl der Barbetreiber als auch der Politiker: Macht und Geld. Mit Coca-Cola, dem Zeichen des amerikanischen Imperialismus, wirbt man für die „24/7“-Bar in den österreichischen Bergen.

Die österreichische Erstaufführung von „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ ist das Ergebnis zweier radikaler Kapitalismuskritiker. Wo Jelinek das Stimmengewirr der Pandemie als Strategie zur Verschleierung opportunistischer Interessen einzelner entlarvt, lässt es Castorf in seinem Entäußerungs- und Bildertheater assoziativ abheben.

Szenenbild aus Lärm.Blindes Sehen.Blinde sehen!
von Elfriede Jelinek
Matthias Horn

Im Zentrum steht die Medien- und CoV-Politik der österreichischen Bundesregierung, deren Krisenmaßnahmen in Jelineks Text verdichtet und neu gedacht zur Schau gestellt werden. „Hören Sie mir beim Nachreden zu“, schreibt sie zu Beginn. „Ich drehe das Licht an, schlage die Zeitung auf und schreibe sie ab.“

Das macht sie virtuos. Und erzählt von einer irreführenden Politik von Machthabern, denen es doch nur um den eigenen Vorteil, die eigene Karriere geht. Systematisch entlarvt sie den schönen Schein und beschönigende Sprache, etwa die Umfärbung der schwarzen ÖVP in eine türkise, helle Volkspartei.

Schauspieler Mehmet Atesci – wie auch alle anderen Akteure in vielen Rollen zu sehen – freut sich darüber, weil er „Türk-is“ hört, und bringt sogleich die klangliche Ebene, etwa zum englischen „Turkey“, ins Spiel. Bei Castorf werden die Türkisen Truthähnen gleichgesetzt, die übers politische Parkett trippeln und ihrem mit 99,4 Prozent fast absolut gewählten Herrscher untertänig folgen.

Überzeichnung und Entäußerung sind Castorfs theatrale Mittel: „König Kurz“ heißt es da mit Verweis auf Ludwig XIV., auch auf die Erlöserrolle und die Stadthallenaffäre wird mit der Anrede „Jesus Kurz“ angespielt, und zur Anbetung fährt eine Leinwand herunter, die den Kanzler bei seinen Reden an „sein Volk“ präsentiert.

Die Bilder werden vervielfacht und gesplittet, denn sowohl Jelinek als auch Castorf erzählen nicht nur von Kurz, sondern vom Phänomen der Macht.

Französische Marke Castorf

Das Tor zur Macht ist aber für andere geschlossen, „Marche interdite car Nouvelle Vague“. „Zutritt verboten, aufgrund der neuen Welle“. Doch die bei Castorf stets eingesetzte Handkamera lässt nichts im Verborgenen: Hinter verschlossenen Türen sitzt der König (Branko Samarovski) auf dem Thron, ganz offensichtlich an Covid-19 erkrankt.

Abwechselnd helfen ihm die Schauspielerinnen Andrea Wenzl, Dörte Lyssewski und Marie-Luise Stockinger mit den Beatmungsgeräten, dazwischen wird dem Komasaufen mit Bier und Wodka gehuldigt. An Mehrdeutigkeiten fehlt es hier nicht: Mittels eines Schlauches flößt Wenzl Lyssewski Schnaps ein, zweifelsohne ein Verweis auf den Schlauch, den Odysseus und seine Männer vom Windgott Aiolos als Geschenk erhalten hatten.

Kurz vor Ithaka, dem Ziel der Reise, dominieren weder Vernunft noch wohlüberlegtes Handeln, sondern Neugier und Argwohn. Odysseus’ Männer öffnen den Schlauch, und ein starker Wind treibt sie zurück. Wie so oft schlägt Jelinek den Bogen zur Mythologie und verbindet grundlegende Fragen nach Gesellschaft mit antiken Erzählungen.

In „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ bezieht sie sich auf Homers 10. Gesang der „Odyssee“, in dem der griechische Held mit seinen Männern zurück zum Windgott Aiolos getrieben wird. Castorf ergänzt die Irrfahrten, treibt sie in Daniel Defoes „Die Pest in London“, ins absolutistisch regierte Paris, und in einen trostlosen Bananenkeller aus der Erzählung „Die Marter der Hoffnung“ von Auguste Villiers d’Isle Adam (1838–1889).

Nachhilfe mit Homer

Alles verbindend ist hier aber Homers Erzählung von der Verwandlung der Männer in Schweine. Nach einem opulenten Mahl lässt die Zauberin Kirke Odysseus’ Gefolgschaft zu Schweinen werden. Seitdem ist der geläufige Topos vielseitig verwendet und Teil der Ikonografie des Schweins.

Assoziativ schlägt Jelinek den Bogen zu den Schlachtbetrieben, die zu CoV-Hotspots wurden, und zu den Schweinereien, die sich rund um die Verbreitung des Virus in Ischgl abgespielt haben. Im Stimmengewirr der Pandemie, in den tiefen (verseuchten?) Wassern der Gerüchte und Verschwörungstheorien tritt Lyssewski als Seherin Elfriede Jelinek auf. Ihre Augen sind verbunden, die Leinwand ist grell-weiß, sie ist erblindet von dem Gerede und Geschreibe der Blender.

Castorf hat aus der Jelinek’schen Textfläche ein Stück gemeißelt, das deren Mehrdeutigkeiten brachial zur Geltung bringt.
Nach dreieinhalb Stunden gab es bei der Premiere für den anwesenden Regisseur und auch für das Ensemble viel Jubel und heftigen Applaus.