Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro
Reuters/Adriano Machado
Unabhängigkeitstag in Brasilien

Bolsonaro und die „Strategie der Spannung“

Brasilien gedenkt am Dienstag der Erlangung der Unabhängigkeit am 7. September 1822 – Präsident Jair Bolsonaro machte zuletzt aber deutlich, dass er den Staatsfeiertag in diesem Jahr nicht zuletzt als Machtdemonstration in eigener Sache nutzen will. Seit Tagen ruft der ultrarechte Politiker seine Anhänger dazu auf, am Unabhängigkeitstag gegen die gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen auf die Straße zu gehen. Beobachter orten in Bolsonaros Drohgebärden eine Gefahr für die Demokratie – und warnen vor einem Aufstand im Stil des von Anhängern von Ex-US-Präsident Donald Trump durchgeführten Sturms auf das Kapitol.

Bolsonaro will eigenen Angaben zufolge am Unabhängigkeitstag bei Kundgebungen in der Hauptstadt Brasilia und in der Wirtschaftsmetropole Sao Paulo auftreten. Der 66-Jährige verkündete selbst, er rechne bei seinem Auftritt auf der Avenida Paulista in Sao Paulo mit mehr als zwei Millionen Teilnehmern. Auch Gegner von Bolsonaro haben für Dienstag zu Kundgebungen aufgerufen. Sicherheitskräfte sollen beide Lager auseinanderhalten.

Laut ersten Berichten durchbrachen Bolsonaro-Unterstützer am Montagabend (Ortszeit) eine Polizeiabsperrung. Wie die Polizei der Hauptstadt mitteilte, überwanden Hunderte Demonstranten mit Lastwagen und Autos eine Absperrung und gelangten auf die aus Sicherheitsgründen gesperrte Allee, die zum Kongress und zum Obersten Gerichtshof des Landes, der gegen den Präsidenten ermittelt, führt.

In den aktuellen Umfragen liegt Bolsonaro mit Blick auf die Präsidentenwahl im kommenden Jahr klar hinter seinem linken Konkurrenten Luiz Inacio Lula da Silva, der bisher noch nicht einmal seine Kandidatur bekanntgegeben hat. Der Oberste Gerichtshof hat eine Serie von Untersuchungen angeordnet, bei denen es darum geht, ob Bolsonaro und seine engsten Mitarbeiter systematisch Falschmeldungen verbreiteten.

Haftbefehl gegen Bolsonaro-treuen Blogger

Bolsonaro sieht sich seitdem im „Krieg“ mit den beiden federführenden Höchstrichtern Alexandre de Moraes und Luis Roberto Barroso und setzt nach den Worten des Onlineportals Amerika21 auf eine „Strategie der Spannung“. Man könne nicht zulassen, „dass ein oder zwei Personen ihre Macht nutzen, um das Land in eine andere Richtung zu bewegen“, so Bolsonaro, der hier schließlich noch anfügte: „Die Botschaft, die ihr kommenden Dienstag auf der Straße hinterlassen werdet, wird ein Ultimatum für diese beiden Personen sein.“

De Moraes hatte kürzlich Ermittlungen gegen Bolsonaro wegen der Verbreitung von Falschinformationen angeordnet und bei mehreren seiner Unterstützer Durchsuchungen wegen der mutmaßlichen Finanzierung antidemokratischer Demonstrationen veranlasst. Am Freitag ging de Moraes noch weiter, indem er einen Haftbefehl gegen den Bolsonaro-treuen Blogger Wellington Macedo wegen der Organisation gewalttätiger Demonstrationen zum Unabhängigkeitstag ausstellte.

Der Oberste Richter Barroso, der zugleich dem Obersten Wahlgericht vorsteht, stellt sich Bolsonaros Vorwürfen entgegen, die elektronischen Wahlurnen führten zu Wahlbetrug in Brasilien. Bolsonaro bringt diese Anschuldigungen immer wieder vor, ohne Beweise vorzulegen. Barroso bezeichnete er mehrmals öffentlich als „Dummkopf“. Nachdem ein Antrag zur Amtsenthebung des Höchstrichters de Moraes im Senat scheiterte, sagte Bolsonaro schließlich: „Ich weiß, wo Brasiliens Krebsgeschwür ist, und wir haben einen Weg, den Krieg zu gewinnen.“

Gescheiterte Wahlrechtsreform

Mit Blick auf den im Jänner nach der Wahlniederlage von Trump erfolgten Sturm auf das US-Kapitol in Washington hatte Bolsonaro gewarnt, Brasilien habe „ein noch größeres Problem als die USA“, wenn es auch bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr das elektronische Wahlsystem nutze. Das Wahlsystem in Brasilien – mit 210 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas – ist vollständig elektronisch. Mitte August verfehlte eine von Bolsonaro angestrebte Wahlrechtsreform die für eine Umsetzung notwendige Mehrheit im brasilianischen Parlament. Für Gesprächsstoff sorgte dabei eine am selben Tag in Brasilia von Bolsonaro abgenommene Militärparade. Beobachter werteten die rund zehnminütige Parade als Einschüchterungsversuch des Präsidenten.

Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auf einer Militärparade in Brasilia am 10. August 2021.
AP/Eraldo Peres
Während im Parlament eine Wahlrechtsreform zur Debatte stand, nahm Bolsonaro in Brasilia eine Militärparade ab

Wie der ehemalige US-Präsident Trump warnt auch Bolsonaro ohne Belege vor einer möglichen Manipulation. Bolsonaro fordert, dass die Stimmabgabe auch auf einem Ausdruck festgehalten werden müsse, andernfalls werde er das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 2022 möglicherweise nicht anerkennen. Mit seinem Vorstoß versucht er politischen Analysten zufolge, angesichts schlechter Umfragewerte seine Anhänger zu mobilisieren.

Die Zustimmung zu Bolsonaros Amtsführung ist im Laufe der Coronavirus-Pandemie immer weiter gesunken. Anfang Juli lehnten 51 Prozent der Befragten die Politik des Präsidenten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha ab. Das war das schlechteste Ergebnis seit Bolsonaros Amtsantritt 2019.

„Tod, Haft oder Sieg“

Für seine eigene Zukunft sehe er „drei Alternativen“, wie Bolsonaro Ende August bei einem Treffen mit evangelikalen Christen im zentralbrasilianischen Goiania sagte: „Ins Gefängnis zu kommen, tot zu sein oder siegreich.“ Vor seiner Reise nach Goiania, der Hauptstadt des Teilstaates Goias, hatte Bolsonaro die Brasilianer zudem aufgerufen, sich zu bewaffnen. „Alle müssen ein Gewehr kaufen. Ein bewaffnetes Volk wird niemals unterworfen.“

Der Leiter des Obersten Gerichtshofs, Luiz Fux, zeigte sich besorgt über die Wortwahl des Präsidenten. Er erinnerte daran, dass Demonstrationen in einer Demokratie „friedlich“ sein müssten und dass die freie Meinungsäußerung nicht gleichbedeutend sei mit „Drohungen und Gewalt“. Unter den überzeugten Anhängern Bolsonaros seien auch Fans, die zu solchen Kundgebungen Waffen mitbrächten, sagte der Politikberater Andre Rosa. Bolsonaros Anhänger seien „sehr reaktionär“, sie wollten „in den Krieg ziehen“. Bolsonaro kann nach Rosas Einschätzung die Gewalt nicht „kontrollieren“. Vielmehr nehme der Präsident ein „kalkuliertes Risiko“ in Kauf.

„Sehr besorgt“

Beobachter befürchten zudem, dass die landesweiten Märsche von Bolsonaro-Anhängern am Unabhängigkeitstag „so etwas wie eine Generalprobe für den Umsturz sein könnten“, heißt es dazu in der „Süddeutschen Zeitung“. Zeitungen wie Spaniens „El Mundo“ und der britische „Guardian“ verwiesen auf einen von 150 ehemaligen Staatspräsidenten, Premierministern und weiteren Persönlichkeiten aus dem linken Spektrum verfassten offenen Brief, wonach die angekündigten Pro-Bolsonaro-Kundgebungen „Ängste vor einem Putsch in der drittgrößten Demokratie der Welt schüren“.

In dem Schreiben zeigen sich unter anderem der ehemalige spanische Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero, Griechenlands Ex-Finanzminister Gianis Varoufakis, der ehemalige britische Labour-Chef Jeremy Corbyn, Paraguays Ex-Präsident Fernando Lugo und der argentinische Nobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist Adolfo Perez Esquivel „sehr besorgt über die bevorstehende Bedrohung der demokratischen Institutionen Brasiliens“. Das brasilianische Volk habe jahrzehntelang dafür gekämpft, die Demokratie von der Militärherrschaft zu befreien, zitierte der „Guardian“ weiter aus dem Schreiben: „Bolsonaro darf nicht erlaubt werden, sie jetzt zu berauben.“