„Ein kalendarischer Zufall lässt den 20. Jahrestag des 11. Septembers und den Auftakt des außergewöhnlichen Prozesses der (Bataclan-) Anschläge von 2015 in ein und dieselbe Woche fallen. (…) 130 Personen sind in der Konzerthalle Bataclan, im Stade de France und den Straßencafes im fünften und sechsten Pariser Arrondissement ums Leben gekommen. (…) Genauso wie der 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten war der 13. November 2015 für die französische Gesellschaft ein Stoß mitten ins Herz und von unfassbarer Gewalt.“
Diesen „Stoß“, wie ihn die Zeitung „Le Parisien“ nannte, aufzuarbeiten, daran macht sich der aufwendigste Prozess, den die französische Justiz je geführt hat. Vor Gericht stehen der einzige überlebende Terrorist Salah Abdeslam und 19 mutmaßliche Helfer. Zwölf von ihnen droht lebenslange Haft, gegen sechs wird der Prozess in Abwesenheit geführt.
Pariser Terrornacht
Am 13. November 2015 griffen jeweils drei mit Selbstmordgürteln ausgestattete Männer gemeinsam an – eine Gruppe am Fußballstadion Stade de France, die nächsten in einem Ausgehviertel, die letzte im Konzertsaal Bataclan. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nahm die Anschläge als ihre Taten in Anspruch.
Gegen den Schweden Osama Krayem wird zusätzlich in Schweden wegen Kriegsverbrechen ermittelt. Nach Ansicht der Behörden war der 29-Jährige an dem Mord eines jordanischen Piloten 2015 in Syrien beteiligt. Die Bilder des Mannes, der in einem Käfig lebendig verbrannt worden war, wurden damals von Dschihadisten verbreitet.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gibt es 1.765 Nebenklägerinnen und Nebenkläger, zu Beginn sind alleine zwei Tage dafür reserviert, jede und jeden namentlich aufzurufen. Erst am dritten Tag will das Gericht inhaltlich breiter auf die Vorwürfe eingehen, die sich auf 500 Aktenordner voll Ermittlungsergebnissen stützen. Hunderte Zeugen wurden vorgeladen, darunter auch der damalige Präsident Francois Hollande.
Neue Bedingungen für Verfahren „V13“
Für das Verfahren „V13“ (vendredi, dt.: Freitag, der 13., Anm.) wurde im Pariser Justizpalast ein neuer Saal aus hellem Holz eingezogen, der 550 Sitzplätze bietet und eine würdige Ausstrahlung haben soll. Der Gerichtssaal misst rund 700 Quadratmeter, Bildschirme stellen die Sicht auf die Verhandlung in den hinteren Bereichen sicher. Während des gesamten Prozesses steht für die Betroffenen eine psychologische Betreuung parat. Opfer und Angehörige können die Anhörungen erstmals über ein gesichertes Webradio verfolgen.
Noch ehe der Prozess begonnen hat, weckten neue Berichte Erinnerung an die Terrornacht. So veröffentlichte der Sender France Info erstmals Tonmitschnitte aus der Pariser Notrufzentrale. „Ich habe einen Typen mit einer Kalaschnikow gesehen, der aus einem Auto stieg und der einfach auf die Menschen geschossen hat, bei McDonald’s“, sagte ein Anrufer. „Mein Mann und ich sind beim Bataclan angeschossen worden, wir sind verletzt, mir geht es nicht gut“, sagte eine Frauenstimme.
Traumatische Erinnerungen
Ein Mann, den die Terroristen im Bataclan mit anderen als menschliches Schutzschild und Geisel nahmen, schilderte dem Sender France Inter, wie einer der Täter ihn zum Aufstehen aufforderte und er nach seinem Rucksack griff. „Warum nimmst du deine Sachen? Die brauchst du nicht mehr, du wirst sterben“, habe der Mann gesagt.
In welchem Umfang der Prozess neue Erkenntnisse bringen wird, hängt primär davon, ob die Angeklagten, allen voran Abdeslam, ihr beharrliches Schweigen brechen werden. Zunächst ist der Prozess bis Mai kommenden Jahres angesetzt.
Anfangs waren etwa tausend Ermittlerinnen und Ermittler damit befasst, die Gewaltakte in der Nacht des 13. November zu rekonstruieren. Sie fanden bald heraus, dass es sich um eine belgisch-französische Dschihadistenzelle mit engen Verbindungen nach Syrien handelte. Als Drahtzieher der Attentate gilt Oussama Atar, ein Belgier mit marokkanischen Wurzeln, der die Anschläge von Syrien aus koordinierte. Nach Einschätzung des französischen Geheimdienstes wurde er bei Angriffen auf Syrien 2017 getötet.
Dschihadistenzelle unbestimmter Größe
Mehrere der Attentäter waren aus Syrien mit falschen Pässen über die Flüchtlingsroute nach Europa gekommen. Einer von ihnen soll laut einer Zeugenaussage behauptet haben, dass er gemeinsam mit 90 anderen einsatzbereiten Dschihadisten unterwegs gewesen sei. Die Frage, wie groß die Gruppe tatsächlich war, ist weiterhin ungeklärt. In Österreich wurden 2015 ein Algerier und ein Pakistaner festgenommen, die sich möglicherweise an den Pariser Anschlägen beteiligen hätten sollen. Sie waren wegen gefälschter syrischer Papiere in Griechenland hängen geblieben. Laut ihrer Aussage waren sie gemeinsam mit zwei Selbstmordattentätern vom Fußballstadion von Atar in Syrien beauftragt worden.
Bei der Rekonstruktion der Terrornacht stützten sich die Ermittler unter anderem auf eine zufällige Tonaufnahme während des Angriffs im Bataclan und auf die Videoüberwachung am Fußballstadion. Entscheidend für die Franzosen war auch die Zusammenarbeit mit den belgischen Behörden, da mehrere der Attentäter Belgier waren.
Abdeslam wurde schließlich im Brüsseler Vorort Molenbeek aufgespürt, wo er auch aufgewachsen war. Er war auf seiner Flucht am Tag nach den Anschlägen in eine französische Polizeikontrolle geraten, konnte aber weiterfahren, da noch kein Haftbefehl gegen ihn vorlag.