Polizisten und Rettungsleute auf der Straße vor dem „Bataclan“.
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Mammutprozess

Aufarbeitung der Pariser Terrornacht startet

Es waren die schwersten Anschläge in der Geschichte Frankreichs: Islamisten töteten vor fünf Jahren in Paris 130 Menschen. Immer noch sind viele Fragen ungeklärt. Vieles hängt nun davon ab, ob der einzige noch lebende mutmaßliche Attentäter Salah Abdeslam sein Schweigen in dem am Mittwoch begonnenen Mammutprozess bricht.

„Ein kalendarischer Zufall lässt den 20. Jahrestag des 11. Septembers und den Auftakt des außergewöhnlichen Prozesses der (Bataclan-) Anschläge von 2015 in ein und dieselbe Woche fallen. (…) 130 Personen sind in der Konzerthalle Bataclan, im Stade de France und den Straßencafes im fünften und sechsten Pariser Arrondissement ums Leben gekommen. (…) Genauso wie der 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten war der 13. November 2015 für die französische Gesellschaft ein Stoß mitten ins Herz und von unfassbarer Gewalt.“

Diesen „Stoß“, wie ihn die Zeitung „Le Parisien“ nannte, aufzuarbeiten, daran macht sich der aufwendigste Prozess, den die französische Justiz je geführt hat. Vor Gericht stehen der einzige überlebende Terrorist Salah Abdeslam und 19 mutmaßliche Helfer. Zwölf von ihnen droht lebenslange Haft, gegen sechs wird der Prozess in Abwesenheit geführt.

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Bild zeigt Polizisten und Rettungskräfte auf einer Straße in der Nähe des „Bataclan“
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Am 13. November 2015 war Paris das Ziel mehrerer Anschläge, zu denen sich die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte
Polizisten und Rettungsleute auf der Straße vor dem „Bataclan“.
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Bei den schlimmsten Attentaten in der Geschichte Frankreichs wurden 130 Menschen getötet und 350 verletzt
Menschen am Spielfeld des Stade de France während der Terranschläge in Paris am 14. November 2015
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Am frühen Abend versuchten drei Personen, in das Stade de France einzudringen, wo das Fußballspiel Frankreich gegen Deutschland stattfand. Die Attentäter wurden von Sicherheitskräften abgewiesen, worauf sie sich selbst in die Luft sprengten.
Menschen mit Wärmeschutzfolie und Einsatzkräfte nach dem Terroranschlag in Paris am 14. November 2015
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Andernorts in Paris eröffneten Terroristen in der Nähe von Cafes und Restaurants das Feuer
Polizeieinsatz vor der Konzerthalle Bataclan während der Terroranschläge in Paris am 14. November 2015
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Eine weitere Gruppe betrat zur gleichen Zeit die Konzerthalle Bataclan und schoss auf die Anwesenden
Menschen gedenken den Opfern des Attentats im „Bataclan“.
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An diesem Abend starben 130 Menschen, das Trauma in dem Land sitzt immer noch tief
Polizisten bewachen die blockierte Straße vor dem „Bataclan“.
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Dem einzigen noch lebenden Attentäter Salah Abdeslam gelang die Flucht nach Belgien. Im März 2016 wurde er im Brüsseler Vorort Molenbeek festgenommen und später nach Frankreich ausgeliefert.
Der damalige US Präsident Barack Obama gedenkt zusammen mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande und der pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo den Opfern des Attentats.
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2015 gedachten der damalige US-Präsident Barack Obama und sein französischer Kollege Francois Hollande vor dem Bataclan der Opfer der Anschläge
Bild zeigt einen Polizisten vor dem „Palais de Justice“ in Paris.
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Von den zehn Tätern starben sieben noch in der Terrornacht, durch Sprengstoffgürtel, oder sie wurden von Spezialkräften erschossen. Zwei weitere wurden einige Tage später getötet, als die Polizei sie in Saint-Denis im Norden von Paris aufspürte.

Pariser Terrornacht

Am 13. November 2015 griffen jeweils drei mit Selbstmordgürteln ausgestattete Männer gemeinsam an – eine Gruppe am Fußballstadion Stade de France, die nächsten in einem Ausgehviertel, die letzte im Konzertsaal Bataclan. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nahm die Anschläge als ihre Taten in Anspruch.

Gegen den Schweden Osama Krayem wird zusätzlich in Schweden wegen Kriegsverbrechen ermittelt. Nach Ansicht der Behörden war der 29-Jährige an dem Mord eines jordanischen Piloten 2015 in Syrien beteiligt. Die Bilder des Mannes, der in einem Käfig lebendig verbrannt worden war, wurden damals von Dschihadisten verbreitet.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gibt es 1.765 Nebenklägerinnen und Nebenkläger, zu Beginn sind alleine zwei Tage dafür reserviert, jede und jeden namentlich aufzurufen. Erst am dritten Tag will das Gericht inhaltlich breiter auf die Vorwürfe eingehen, die sich auf 500 Aktenordner voll Ermittlungsergebnissen stützen. Hunderte Zeugen wurden vorgeladen, darunter auch der damalige Präsident Francois Hollande.

Bild zeigt den für den Prozess gebauten Gerichtsaal.
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Der Bau des Holzprovisoriums im Pariser Justizpalast ging ins Geld – allen Betroffenen soll ein möglichst würdiger Schauplatz des Prozesses geboten werden

Neue Bedingungen für Verfahren „V13“

Für das Verfahren „V13“ (vendredi, dt.: Freitag, der 13., Anm.) wurde im Pariser Justizpalast ein neuer Saal aus hellem Holz eingezogen, der 550 Sitzplätze bietet und eine würdige Ausstrahlung haben soll. Der Gerichtssaal misst rund 700 Quadratmeter, Bildschirme stellen die Sicht auf die Verhandlung in den hinteren Bereichen sicher. Während des gesamten Prozesses steht für die Betroffenen eine psychologische Betreuung parat. Opfer und Angehörige können die Anhörungen erstmals über ein gesichertes Webradio verfolgen.

Noch ehe der Prozess begonnen hat, weckten neue Berichte Erinnerung an die Terrornacht. So veröffentlichte der Sender France Info erstmals Tonmitschnitte aus der Pariser Notrufzentrale. „Ich habe einen Typen mit einer Kalaschnikow gesehen, der aus einem Auto stieg und der einfach auf die Menschen geschossen hat, bei McDonald’s“, sagte ein Anrufer. „Mein Mann und ich sind beim Bataclan angeschossen worden, wir sind verletzt, mir geht es nicht gut“, sagte eine Frauenstimme.

Menschen gedenken den Opfern des Attentats im „Bataclan“.
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Im kollektiven Gedächtnis bleibt der erlebte Horror vom 13. November 2015 in Paris eingebrannt

Traumatische Erinnerungen

Ein Mann, den die Terroristen im Bataclan mit anderen als menschliches Schutzschild und Geisel nahmen, schilderte dem Sender France Inter, wie einer der Täter ihn zum Aufstehen aufforderte und er nach seinem Rucksack griff. „Warum nimmst du deine Sachen? Die brauchst du nicht mehr, du wirst sterben“, habe der Mann gesagt.

In welchem Umfang der Prozess neue Erkenntnisse bringen wird, hängt primär davon, ob die Angeklagten, allen voran Abdeslam, ihr beharrliches Schweigen brechen werden. Zunächst ist der Prozess bis Mai kommenden Jahres angesetzt.

Anfangs waren etwa tausend Ermittlerinnen und Ermittler damit befasst, die Gewaltakte in der Nacht des 13. November zu rekonstruieren. Sie fanden bald heraus, dass es sich um eine belgisch-französische Dschihadistenzelle mit engen Verbindungen nach Syrien handelte. Als Drahtzieher der Attentate gilt Oussama Atar, ein Belgier mit marokkanischen Wurzeln, der die Anschläge von Syrien aus koordinierte. Nach Einschätzung des französischen Geheimdienstes wurde er bei Angriffen auf Syrien 2017 getötet.

Dschihadistenzelle unbestimmter Größe

Mehrere der Attentäter waren aus Syrien mit falschen Pässen über die Flüchtlingsroute nach Europa gekommen. Einer von ihnen soll laut einer Zeugenaussage behauptet haben, dass er gemeinsam mit 90 anderen einsatzbereiten Dschihadisten unterwegs gewesen sei. Die Frage, wie groß die Gruppe tatsächlich war, ist weiterhin ungeklärt. In Österreich wurden 2015 ein Algerier und ein Pakistaner festgenommen, die sich möglicherweise an den Pariser Anschlägen beteiligen hätten sollen. Sie waren wegen gefälschter syrischer Papiere in Griechenland hängen geblieben. Laut ihrer Aussage waren sie gemeinsam mit zwei Selbstmordattentätern vom Fußballstadion von Atar in Syrien beauftragt worden.

Fahndungsfoto des Terroristen Salah Abdeslam
APA/AFP/DSK/Police Nationale
Abdeslam ist das letzte noch lebende Mitglied des Terrorkommandos

Bei der Rekonstruktion der Terrornacht stützten sich die Ermittler unter anderem auf eine zufällige Tonaufnahme während des Angriffs im Bataclan und auf die Videoüberwachung am Fußballstadion. Entscheidend für die Franzosen war auch die Zusammenarbeit mit den belgischen Behörden, da mehrere der Attentäter Belgier waren.

Abdeslam wurde schließlich im Brüsseler Vorort Molenbeek aufgespürt, wo er auch aufgewachsen war. Er war auf seiner Flucht am Tag nach den Anschlägen in eine französische Polizeikontrolle geraten, konnte aber weiterfahren, da noch kein Haftbefehl gegen ihn vorlag.