20 Jahre nach 9/11

Blick zurück aus arabischer Sicht

20 Jahre ist es her, dass die Passagierflugzeuge in New York und Washington einschlugen und die Welt live zusah, wie das World Trade Center einstürzte. Wie hat die arabische Welt die Anschläge damals wahrgenommen? Und war der Krieg gegen den Terror dort erfolgreich? ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary hat mit Hisham Hellyer von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden gesprochen.

Nicht anders als im Rest der Welt herrschte in mehrheitlich islamischen Ländern wie Ägypten ein Gefühl des blanken Entsetzens vor, als die Menschen vor den TV-Schirmen die Nachrichten des 11. September verfolgten. Der Horror über den Tod so vieler unschuldiger Zivilisten machte auch dort fassungslos.

Aber parallel mischte sich bei manchen noch etwas anderes dazu, sagt Hisham Hellyer von der Washingtoner Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden im Interview mit ORF.at in Kairo: „Es gab das Gefühl, dass sich die Supermacht USA eine blutige Nase geholt hat“; eine Supermacht, die überall in der Region ihre Macht einsetze und als eine Macht wahrgenommen werde, die die dortigen autokratischen Systeme am Leben erhalte, erklärt Hellyer, der auch für die britische Denkfabrik Royal United Services Institute arbeitet.

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Westen war nicht Hauptziel des Terrors

Tatsächlich sei Osama Bin Laden für manche Araber die radikalste und brutalste Antwort auf ihre gefühlte Machtlosigkeit gewesen, gegenüber ihren eigenen Regimen und gegenüber einem Westen, der mit seinen Truppen in der Region – scheinbar nach Belieben – ein- und wieder ausmarschierte. Bin Laden hatte diese Ohnmächtigen durch einen beispiellosen blutigen Anschlag für einen Moment lang vermeintlich zu Mächtigen gemacht.

Nur an der Situation der Araber hatte sich in Wirklichkeit nichts geändert. Die Terroristen von al-Kaida, die angekündigt hatten, mit dem Mittel der Gewalt die „ungläubigen arabischen Regime“ zu stürzen, überzogen die gesamte arabische Welt mit ihren Anschlägen – die dort ungleich mehr Menschenleben forderten als die im Vergleich wenigen spektakulären Anschläge im Westen.

„Die weitaus meisten Opfer der Anschläge islamistischer Extremisten sind nicht Amerikaner oder Europäer oder generell gesprochen weiße Christen, sondern kommen aus muslimischen Gemeinschaften in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt“, so Hellyer. Trotzdem verbreitete sich die falsche Sichtweise, dass der Westen das Hauptziel dieses Terrors sei.

Statisten ohne demokratische Mitbestimmung

Die Menschen in der von Autokraten regierten arabischen Welt erlebten die Anschläge des 11. September und den anschließenden Anti-Terror-Kampf sowie die blutigen Anschläge in ihrer eigenen Nachbarschaft im Wesentlichen als Zuschauer. Sie hatten als rechtlose Untertanen von Königen, Diktatoren und Emiren keinerlei Einfluss auf die Politik.

Das änderte sich 2011 mit dem „arabischen Frühling“ und den arabischen Aufständen in Tunesien, Ägypten und Libyen. Damit gerieten die militanten Islamisten für ein paar Jahre ins politische Abseits. Als Antithese zu Bin Laden demonstrierten die Araber friedlich bis zum Sturz ihrer Regime für Brot, Würde und Demokratie. In wenigen Wochen hatten sich die Tunesier und Ägypter von Ohnmächtigen zu Mächtigen gewandelt und waren in der gesamten arabischen Welt zum Symbol der Veränderung geworden.

Lynndie England hält einen Gefangenen an einer Leine im Gefängnis Abu Ghraib, 2003
AP
US-Soldatin Lynndie England mit einem Häftling in Abu Ghraib

Das gebrochene Narrativ des Terrors

Militanz wurde durch Straßenproteste als Weg zu Veränderung ersetzt. „Die Extremisten wollten immer glaubhaft machen, dass sie den besseren und effektiveren Weg haben, weil jede andere Veränderung von den Regimen nicht erlaubt würde. Dieses Narrativ wurde 2011 gebrochen“, so Hellyer. Doch dann war es gerade der Frust über die meist gescheiterten arabischen Aufstände, der den militanten Islamisten erneut Auftrieb verlieh.

„Das Argument der Extremisten ist, dass es nutzlos sei, die Dinge durch Wahlen verändern zu wollen. Am Ende werden alle von den Sicherheitsapparaten und Militärs gestoppt, die gegen jegliche Veränderung seien, und festgenommen, ins Exil geschickt oder gefoltert“, sagt Hellyer. Je mehr die Menschen von dieser Politik desillusioniert waren, desto mehr habe wieder das Narrativ des Extremismus Fahrt aufgenommen.

Sammelbecken für Hardcore-Dschihadisten

Dass mit dem sogenannten Islamischen Staat, dem IS, ein neuer militanter Keimling entstand, hat auch damit zu tun, dass man im Westen glaubte, mit einer Invasion in Afghanistan und im Irak den Terror am besten zu bekämpfen, und dabei wahrscheinlich noch mehr Terror schuf. Die Wurzeln des IS reichen zurück in die Gefängnisse der US-Besatzer im Irak.

Im Wüstengefangenenlager Camp Bucca, in der Nähe der südirakischen Stadt Basra, war bis 2009 alles versammelt, was gegen die US-Truppen im Irak Widerstand geleistet hatte oder in Verdacht stand, das getan zu haben: die Hardcore-Dschihadisten al-Kaidas im Irak, die unter der Führung Abu Musab al-Sarkawis nicht nur die US-Truppen, sondern auch die Schiiten des Landes mit Terror überzogen, und viele Tausende ehemalige militärisch gut ausgebildete Offiziere von Saddam Husseins einstiger Armee, die von den US-Besatzern aufgelöst worden war.

„Der Westen“ als Allerweltserklärung

Einer der Gefangenen war der spätere IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi. Camp Bucca war der Brutkasten für einen großen Teil der Führungsriege des sogenannten Islamischen Staates. Und die US-Truppen im Irak waren der Geburtshelfer. Der anschließende Siegeszug des IS ist bekannt. Hellyer warnt jedoch davor, den Zusammenhang von „Ursache Invasion“ und „Auswirkung IS“ überzubewerten. Sicher sei allerdings, dass der Westen mit seinem Anti-Terror-Kampf „Öl ins Feuer gegossen“ habe.

„Die USA und die westliche Politik schufen die Bedingungen für die Expansion dieser Gruppen, aber sie haben sie nicht verursacht.“ Es sei falsch, dem Westen dafür die gesamte Verantwortung zu geben, auch weil man damit jenen, die sich in den extremistischen Gruppen engagieren, ihre Handlungsmacht abstreite. „Menschen, die zu extremistischen Gruppen gehen, sind keine dummen Kinder. Sie wissen, was sie tun, und haben Gründe, warum sie diesen Weg gewählt haben. Wir stimmen ihnen nicht zu, aber sie sind keine Automaten und Roboter.“ Und: „Wir können vielleicht sagen, ohne die Invasion in den Irak wäre der IS nie entstanden, aber al-Kaida wäre immer noch da. Die gab es vor dem 11. September und lange, bevor der Krieg gegen den Terror ausgerufen wurde“, so Hellyer.

Hinweis

Der ORF berichtet in einem multimedialen Schwerpunkt über die Ereignisse am 11. September und deren Folgen – mehr dazu in tv.ORF.at.

IS als Profiteur der Lage in Afghanistan

Und wie werden sich die militanten islamistischen Gruppen weiterentwickeln? Der IS wird sich wahrscheinlich wieder eher in eine Form von al-Kaida entwickeln, weil er kein Territorium mehr besitzt, glaubt Hellyer. Er existiere an vielen Orten in Zellen weiter, von Afghanistan bis hin zum afrikanischen Kontinent. Der 11. September, die Invasion in Afghanistan und im Irak, all das wirkte für die Extremisten wie ein Trigger. „Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird.“

Und wie wird sich der Rückzug aus Afghanistan auf die militanten Islamisten auswirken? „Die Taliban wollen in Afghanistan keinen isolierten Paria schaffen. Daher müssen sie im Inneren, aber auch gegenüber der Welt nach außen, politische Kompromisse eingehen“, so Hellyer. Jeder Unterstützer des IS werde über diese Kompromisse entsetzt sein. „Aber auch innerhalb der Taliban gibt es Leute, die sagen: Wir haben die 20 Jahre lang bekämpft und jetzt verhandeln wir mit denen und treten mit ihnen in Verbindung und der Chef des CIA verhandelt offen mit unserer Führung. Ich glaube, dass der IS von dieser Situation profitieren wird.“