Frauen protestieren in Kabul
APA/AFP/Hoshang Hashimi
Afghanistan

Taliban stellen Proteste unter Strafe

Die radikal-islamistischen Taliban haben am Mittwoch vorerst alle weiteren Proteste in Afghanistan verboten. In der ersten offiziellen Erklärung des Innenministeriums nach der Regierungsbildung heißt es laut Agenturberichten, niemand solle derzeit versuchen, ohne Genehmigung Proteste zu organisieren – ansonsten drohten „ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen“.

Als Grund führten die Taliban an, dass in den vergangenen Tagen einige Menschen die öffentliche Ordnung gestört und Menschen belästigt hätten. Zugleich gaben die Islamisten die Bedingungen für Proteste in der Zukunft vor. Demnach müssen Organisatoren vorab eine Genehmigung des Justizministeriums einholen. Mindestens 24 Stunden vorher müssten der Grund der Demonstration, Ort, Zeit und Slogans Justiz und Sicherheitsbehörden mitgeteilt werden.

Die Taliban hatten in den vergangenen Tagen Demonstrationen mit Gewalt unterdrückt. Außerdem untersagten sie die Berichterstattung über die Proteste in den Medien. Frauen und Männer waren in der Hauptstadt Kabul und mehreren Provinzen unter anderem für Frauenrechte und Freiheit auf die Straße gegangen. Am Mittwoch gingen BBC-Angaben zufolge Dutzende Frauen in Kabul und in der nordostafghanischen Provinz Badakhshan auch gegen die ausschließlich männliche Übergangsregierung auf die Straße.

Afghanische Aktivistinnen
Reuters
In Afghanistan gab es seit der Machtübernahme der Taliban immer wieder Frauenproteste

Die Proteste seien laut BBC von den Taliban teils gewaltsam aufgelöst worden. Nach Angaben der lokalen Nachrichtenorganisation Etilaatroz wurden auch einige ihrer Journalisten festgenommen und geschlagen, weil sie über eine Kundgebung berichtet hatten. Berichte über Gewalt gegen an Protesten teilnehmende Menschen und festgenommene Journalisten gab es bereits am Vortag, als in Kabul die bisher größten Proteste gegen die neuen Machthaber stattfanden. Hunderte von Menschen protestierten am Dienstag sowohl in der Hauptstadt als auch in der Stadt Herat, wo zwei Menschen auf dem Demonstrationsgelände erschossen wurden.

UNO: Taliban vernachlässigen Versprechen

Während ihrer Schreckensherrschaft von 1996 bis 2001 hatten die Islamisten Frauen und Minderheiten brutal unterdrückt. Neben der Bekanntgabe des Protestverbots durch das Innenministerium schloss ein Taliban-Vertreter gegenüber dem australischen TV-Sender SBS am Mittwoch auch aus, dass es Frauen in Afghanistan weiterhin erlaubt sein werde, Sport zu betreiben. Dem britischen „Guardian“ zufolge sei auch das ein deutliches Anzeichen, dass sich die Taliban nun wohl rasch von ihren früheren Ankündigungen – Stichwort Mäßigung und Inklusivität – entfernen.

Eine UNO-Vertreterin warf den Taliban vor, ihre Versprechen, die Rechte von Frauen in Afghanistan zu respektieren, zu vernachlässigen: „Wir erhalten jeden Tag Berichte über Rückschritte bei den Frauenrechten“, sagte die in Kabul ansässige UNO-Frauenrechtlerin Alison Davidian. Frauen in Afghanistan werde nun etwa verboten, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen oder zu arbeiten.

Blinken: Keine Signale, die optimistisch stimmen

Geht es nach dem deutschen Außenminister Heiko Maas und dessen US-Amtskollegen Antony Blinken, seien allein die Verkündung einer Übergangsregierung ohne Beteiligung anderer Gruppen und die bisherige Vorgangsweise gegen Demonstrantinnen und Journalisten nicht die Signale, die optimistisch stimmen. Die von den Taliban angestrebte internationale Legitimität müssten die Islamisten sich durch ihr Handeln verdienen, sagte Blinken am Mittwoch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Maas auf der US-Luftwaffenbasis im deutschen Ramstein. „Unserer Meinung nach kann sie nicht schnell verdient werden, sie kann nicht durch Worte allein verdient werden.“

So wie Blinken steht auch für Maas eine Anerkennung der Taliban-Regierung derzeit nicht zur Debatte: „Um die wird es nicht gehen, die sehe ich auch nicht im Moment.“ Allerdings sprach er sich dafür aus, die Gespräche mit den Taliban fortzusetzen. Auch an humanitärer Hilfe für das Land wolle sich Deutschland im Rahmen der Vereinten Nationen weiter beteiligen. Ein darüber hinausgehendes Engagement werde aber „vom Verhalten der Taliban“ abhängen.

Neuer Innenminister auf Terrorliste der USA

Blinken erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass auch auf der am Vortag vorgestellten Kabinettsliste keine Frauen zu finden seien und die künftige Regierung in Kabul ausschließlich aus Personen bestehe, die den Taliban oder ihren engen Verbündeten angehören. Zudem gäben Verbindungen und Vergangenheit einiger Regierungsmitglieder Anlass zur Sorge. So wurde etwa Taliban-Vizechef Sarajuddin Haqqani, Chef des berüchtigten Haqqani-Netzwerks, zum künftigen Innenminister ernannt. Er steht als „globaler Terrorist“ auf der Fahndungsliste der USA. Die US-Bundespolizei FBI hat ein Kopfgeld von bis zu zehn Millionen Dollar (knapp 8,5 Mio. Euro) für Hinweise ausgelobt, die zu seiner Festnahme führen.

Die Taliban hatten nach ihrer Machtübernahme im August immer wieder betont, eine „inklusive Regierung“ ernennen zu wollen. Auch trafen sie regelmäßig andere Politiker des Landes wie den Ex-Präsidenten Hamid Karzai und den bisherigen Leiter des Hohen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, zu Gesprächen. Ihrer Ankündigung wurden sie mit Blick auf die aktuell 33 Posten zählende Kabinettsliste nun aber nicht gerecht.

Der Afghanistan-Experte der Denkfabrik International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er das beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Amtsträger Paschtunen. Mitglieder der mehrheitlich schiitischen Minderheit der Hazara etwa fehlen völlig. Die Hazara gelten den sunnitischen Extremisten als ketzerische Sekte. Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das stark von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden.

US-Außenminister State Blinken und deutscher Außenminister Heiko Maas
Reuters/Olivier Douliery
Maas und Blinken bei der gemeinsamen Pressekonferenz am US-Stützpunkt in Ramstein

„Werden Taliban an ihren Taten messen“

Maas und Blinken schalteten sich in Ramstein mit Amtskollegen aus mehr als 20 weiteren Staaten per Video zusammen. Blinken sagte, es habe Einigkeit in der Runde geherrscht, dass die Taliban sich internationale Unterstützung erst verdienen müssten. Auch Großbritannien hätte sich mehr Diversität in der Regierung gewünscht, wie ein britischer Regierungssprecher in London mitteilte. „Wir werden die Taliban weiterhin an ihren Taten messen.“

Auch Russland und Indien erklärten Regierungskreisen zufolge in gemeinsamen Beratungen, die Taliban müssten sich an ihre Zusagen halten. Die in Afghanistan operierenden ausländischen Gruppen seien eine Gefahr für die gesamte Region.

Die Europäische Union will ihre Nothilfe für Afghanistan fortsetzen – die neue Taliban-Regierung aber genau im Auge behalten. „Die Europäische Union ist bereit, weiter humanitäre Hilfe zu leisten“, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Maros Sefcovic. Längerfristig hingen Gelder aber davon ab, ob die neuen Machthaber in Kabul Grundfreiheiten aufrechterhielten. Auch die EU äußerte sich enttäuscht über das von den Taliban eingesetzte Übergangskabinett.

Kritik an Taliban-Übergangsregierung

Eine „inklusive Regierung“ zu bilden war das Versprechen der Taliban. Davon ist angesichts der Kabinettsbesetzung nicht mehr viel übrig, so die Kritik der USA.

Für China notwendiger Schritt

China betrachte die Einsetzung einer neuen Regierung als notwendigen Schritt zum Wiederaufbau Afghanistans, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Peking. „Wir hoffen, dass die neuen afghanischen Behörden den Menschen aller Ethnien und Fraktionen umfassend zuhören werden, um den Wünschen der eigenen Bevölkerung und den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft gerecht zu werden.“ China respektiere die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Afghanistans.

In Tokio erklärte die Regierung, Japan werde das Vorgehen der Taliban beobachten. Man stehe im „praktischen Dialog“ mit den Taliban und tue das Möglichste, um die Sicherheit der japanischen Staatsangehörigen und der Ortskräfte zu gewährleisten, sagte ein Regierungsvertreter.

„Klares Zeichen der Feindschaft“

Die Nationale Widerstandsfront (NRF), die zuletzt in der Provinz Panjshir in Gefechten gegen die Taliban kämpfte, teilte in einer Erklärung mit, sie betrachte das Kabinett als „illegal“ und als „klares Zeichen der Feindschaft der Gruppe mit dem afghanischen Volk“. Die NRF rief erneut alle Bürger dazu auf, ihren Widerstand gegen die Taliban fortzusetzen. Internationale Organisationen und andere Länder riefen die Widerstandskämpfer dazu auf, die Anerkennung und diplomatische Beziehungen zum Taliban-Regime so lange zu unterlassen, bis ein Status erreicht sei, der auf dem Willen der Menschen beruhe.

Der Widerstand gegen die Taliban im Panjshir-Tal ist nach Angaben des afghanischen Botschafters in Tadschikistan noch nicht gebrochen. Reste der afghanischen Armee und Milizen setzten die Kämpfe gegen die Taliban fort, sagte der Gesandte der früheren Regierung, Sahir Aghbar, am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in der Hauptstadt Tadschikistans Duschanbe. Er widersprach auch Angaben der Taliban, der Anführer der afghanischen Tadschiken, Ahmad Massoud, und der ehemalige Vizepräsident Amrullah Saleh seien ins benachbarte Tadschikistan geflohen.

Ex-Präsident Ghani entschuldigt sich

Zu Wort meldete sich am Mittwoch auch der ehemalige afghanische Präsident Ashraf Ghani: „Ich entschuldige mich beim afghanischen Volk, dass ich nicht für ein anderes Ende sorgen konnte“, schrieb er auf Twitter. Ghani wies Vorwürfe zurück, er habe bei seiner Flucht Millionen Dollar an staatlichen Geldern mitgenommen. Er habe das Land auf Drängen der Sicherheitskräfte verlassen. Damit habe er das Risiko blutiger Straßenkämpfe vermeiden wollen. Ghani hatte Afghanistan am 15. August verlassen und war in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen.

Grünes Licht für 18 Millionen Soforthilfe

In Österreich gab die Bundesregierung indes grünes Licht für 18 Millionen Soforthilfe für Afghanistan. Zehn Millionen Euro davon gehen an das UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR), fünf Millionen Euro an UN Women und drei Millionen Euro an das UNO-Welternährungsprogramm. „Wir wollen in der Region helfen und dadurch weitere Fluchtbewegungen nach Europa verhindern“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Stellungnahme. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) ergänzte: „Die Lage der Frauen und Mädchen, der Flüchtlinge und die Ernährungslage für ein Drittel der Bevölkerung sind alarmierend. Das macht die internationale humanitäre Hilfe so dringend notwendig.“

200 US-Bürger dürfen ausreisen

Wie am Donnerstag bekanntwurde, lassen die Taliban nach Angaben aus Washington 200 US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner und andere Zivilisten, die nach Ende des Evakuierungseinsatzes zurückgeblieben sind, aus Afghanistan ausreisen.

Genutzt würden Charterflüge vom Flughafen Kabul. Die Abflüge würden noch für Donnerstag erwartet, teilte ein namentlich nicht genannter US-Vertreter mit. Der US-Sondergesandte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, habe die Taliban gedrängt, die Menschen ausreisen zu lassen, hieß es weiter.