Filmszene aus „Stillwater“
© 2021 Focus Features, LLC./Jes
Vorbild Amanda Knox?

Ein Vater kämpft um seine Tochter

In „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ inszeniert Oscar-Preisträger Tom McCarthy Matt Damon als stoischen amerikanischen Helden, der um die Freiheit seiner in Frankreich inhaftierten Tochter ringt. Die Handlung ist dabei vom Fall Amanda Knox inspiriert. Was wie ein Thriller beginnt, wird zu einer Kritik an einem amerikanischen Selbstverständnis, das an kulturellen Unterschieden scheitert.

Ein Trümmerfeld nach einem Tornado irgendwo in Oklahoma. Menschen kramen in den Ruinen ihrer Existenz, zwei hispanische Katastrophenhelfer unterhalten sich: „Was passiert mit der Stadt, wenn wir hier aufgeräumt haben?“ – „Sie bauen sie wieder auf und kehren alle zurück.“ Was als Positivbeispiel für Widerstandskraft gelesen werden kann, wird am Beginn des Dramas „Stillwater“ ein Befund für das Scheitern einer ganzen Lebenseinstellung: „Amerikaner mögen keine Veränderung. Aber der Tornado schert sich nicht darum, was Amerikaner mögen.“

„Stillwater“ handelt von einem Mann, der seine Tochter aus dem Gefängnis zu holen versucht. Bill Baker (gespielt von Damon) ist ein einsilbiger Arbeiter, der harte Zeiten hinter sich hat. Seine Frau hat Suizid begangen, er hat getrunken, war im Gefängnis. Jetzt hat er sein Leben sortiert, Religion hat dabei geholfen. Seine Aufgabe ist es jetzt, für die Tochter da zu sein, denn die sitzt seit Jahren in Marseille hinter Gittern, für einen Mord, den sie nach eigenen Aussagen nicht begangen hat.

Hinter Gittern in Marseille

Während ihres Auslandsstudiums in Südfrankreich wurde Allison (Abigail Breslin) wegen Mordes an ihrer Geliebten verurteilt, obwohl sie ihre Unschuld immer beteuert hat. Das Verhältnis zwischen ihrem Vater Bill und Allison war schon seit Jahren schlecht, sie hat ihn wegen seiner Engstirnigkeit und Provinzialität verachtet. Doch nun besucht er sie regelmäßig im Gefängnis, bringt frische Kleidung und Fotos von daheim.

Filmszene aus „Stillwater“
© 2021 Focus Features, LLC./Jessica Forde
Familiäre Annäherung im Gefängnis Bill Baker (Matt Damon) und Tochter Allison (Abigail Breslin)

Irgendwann steckt sie ihm einen Brief an ihre Anwältin zu: Ein zweiter Tatverdächtiger von damals wurde wieder gesehen, Allison bittet um Wiederaufnahme der Ermittlungen. Doch die sind abgeschlossen. Bill muss die Sache selbst in die Hand nehmen.

Kulturschock zwischen USA und Frankreich

Der stoische Held Baker steht für den Durchschnittsamerikaner aus einem republikanischen Bundesstaat: tendenziell konservativ, allem Ausländischen gegenüber misstrauisch, einer, der sich abgefunden hat mit seiner geringen Bildung und seinem eingeschränkten Blick auf die Welt. Auf die Frage, ob er Trump gewählt hat, sagt er achselzuckend „Nein, weil ich nicht wählen kann, ich war im Gefängnis“, und damit ist das ganze Drama der US-Politik umrissen.

Als er sich nun im kulturellen Schmelztiegel Marseille zurechtfinden muss, um seiner Tochter zu helfen, ist der Kulturschock brutal, zumal seine einzigen Verbündeten seinem Lebensentwurf diametral entgegenstehen, nämlich die Schauspielerin Virginie (Camille Cottin) und ihre sechsjährige Tochter. Ausgerechnet die beiden werden nun zu seinen Dolmetscherinnen in sprachlicher und zwischenmenschlicher Hinsicht, während er desolate Elektroinstallationen in ihrer Wohnung renoviert.

Es ist eine ungleiche Paarung, wie sie fast nur im Kino vorkommt, und die die Filmhandlung, die eigentlich Thrillerpotenzial hat, zum überfrachteten zwischenmenschlichen Drama macht. Regisseur McCarthy und seine Drehbuchkoautoren Thomas Bidegain und Noe Debre interessieren sich vor allem für den Kontrast der beiden Lebenswelten: Hier Hamburger und Pommes, Fernsehen und Gebet vor dem Essen, dort Rotwein, Salat und politische Diskussionen. „Wenn ich mir anschaue, was du isst, ist es kein Wunder, dass du vor dem Essen beten musst“, ätzt Virginie.

Ein Amerikaner im Porzellanladen

McCarthy hatte den Film schon vor Jahren konzipiert, dann jedoch für andere Projekte aufgeschoben. 2016 gewann er einen Oscar mit dem Film „Spotlight“ um ein Team von Aufdeckerjournalisten und ihre Recherchen zur systematische Vertuschung von Kindesmissbrauch in der römisch-katholischen Kirche. Unterdessen übernahmen Bidegain und Debre das Drehbuch. Das Ergebnis ist ein Film, der eine bedrückende Verweigerung eines Mannes zeigt, der sich in einer völlig ungewohnten Umgebung einfach nicht weiterentwickeln kann.

Filmszene aus „Stillwater“
© 2021 Focus Features, LLC./Jessica Forde
Der transatlantische Kulturschock führt bei Bill zu keiner Entwicklung

„Was ist falsch mit uns?“, fragt Allison irgendwann ihren Vater und meint damit wohl: Was ist kaputt an diesem desolaten Amerikanischsein, das so selbstzufrieden ist, andere nicht verletzen will und es doch tut? Wer mag, kann „Stillwater“ als Gleichnis lesen für eine US-Außenpolitik im Privaten, für ein Einmischen in der Fremde mit ausschließlich guten Absichten, dabei aber Verletzte und Tote hinterlassend und ohne Lerneffekt wieder heimzukehren.

Inspiriert vom wahren Leben

Zwar steht, im Gegensatz zu „Spotlight“ hier das Metaphorische im Zentrum des Films, trotzdem ist auch „Stillwater“ nicht frei erfunden. Grundlage des Films, wie McCarthy in einem Interview mit „Vanity Fair“ erzählte, ist der Fall von Meredith Kercher, die in 2007 in Bergamo ermordet aufgefunden wurde. Zunächst wurde ihre Mitbewohnerin Amanda Knox in einer medialen Hexenjagd, an der vor allem britische Boulevardmedien beteiligt waren, als Schuldige ausgemacht, erst nach einem Wiederaufrollen des Falles wurde Knox freigesprochen.

McCarthy sagte im Interview: „Ich habe mich gefragt, wie es wäre, als amerikanische Studentin hinüber (nach Europa) zu gehen für etwas, das einer der aufregendsten Momente in einem jungen Erwachsenenleben sein sollte, und sich dann inmitten einer Tragödie wiederzufinden.“ Knox’ Situation ist also klar die Ausgangssituation für „Stillwater“: „Wer sind die Leute, die sie im Gefängnis besuchen, was sind ihre Beziehungen?“ Doch auch wenn das Drehbuch weit weg ist von den damaligen Ereignissen, ist dieser Aspekt doch heikel.

Wirklichkeit als Kunst?

In einem längeren Twitter-Thread wehrte sich Knox, die mittlerweile als Journalistin arbeitet, gegen die Vereinnahmung durch McCarthy und stellte fest, er habe sich zwar „vorgestellt, wie es ist, in meinen Schuhen zu sein – aber er hat mich nie kontaktiert.“ Die Kontroverse wurde von vielen Medien aufgegriffen, McCarthy hat sich inzwischen entschuldigt. Wichtig ist dabei vor allem die Frage, welche Verantwortung Kunstschaffende jenen gegenüber haben, deren biografische Details sie in ihren Werken weiterverwenden.

Es ist eine künstlerische Grundsatzfrage, die jedoch nicht allgemein beantwortbar ist. Knox’ Reaktion darauf, wie ihre eigene Geschichte zum Rohmaterial für einen Kinofilm wurde, ist allerdings aufschlussreich für Kunstschaffende, die ihre Werke auf Basis realer Begebenheiten entwickeln – und für das Publikum sowieso. Der Film „Stillwater“ funktioniert unabhängig davon als Parabel auf eine Form amerikanischer Identität, die an der Realität scheitert.