Taliban Sprecher Zabihullah Mujahid bei einer Pressekonferenz
AP/Rahmat Gul
Flügel, Stämme, Clans

Bruchlinien innerhalb der Taliban

Auf den ersten Blick sind sie alle Männer mit langen Bärten. Doch die Taliban sind keineswegs so homogen, wie sie scheinen: Aus unterschiedlichen Regionen und aus verschiedenen Stämmen kommend zeichnen sich ebenso Bruchlinien ab wie bei den Zielen und Unterstützern einzelner Fraktionen. Ganz abgesehen davon stehen die Taliban vor demselben Problem wie die afghanischen Regierungen davor: Wie kann der Vielvölkerstaat mit mächtigen Stämmen und Clans auf Dauer ohne Konflikte regiert werden?

Zunächst lassen sich die Taliban je nach Aufgaben in drei Gruppen teilen: eine politische, eine militärische und eine religiöse, wobei es personell durchaus Grauzonen und Überlappungen gibt. Ein Teil der politischen Führung verbrachte die vergangenen Monate oder gar Jahre in Doha in Katar, um Verhandlungen zu führen. Schon seit längerer Zeit betreiben die Islamisten dort eine politische Außenstelle.

Bezeichnenderweise ist das Oberhaupt der Taliban, Hibatullah Akhundzada, ein weitgehend unbeschriebenes Blatt, und das, obwohl er seit 2016 in der Position ist. Von ihm kursiert nur ein einziges Foto, seinen gefürchteten Ruf erwarb er sich als oberster Richter des Scharia-Gerichts in Afghanistan während des Taliban-Regimes der 1990er Jahre.

Mawlawi Hibatullah Akhundzada
AP/Afghan Islamic Press
Taliban-Oberhaupt Akhundzada

Ein religiöser Führer, ein politischer

Akhundzada ist als Oberhaupt in erster Linie ein religiöser Führer und wohl als Emir Afghanistans vorgesehen, während ein Präsident politisch-operativ die Fäden ziehen soll. Das System erinnert ein wenig an jenes des Iran, bei dem Ali Chamenei das religiöse Oberhaupt des Landes und derzeit Ebrahim Raisi Präsident ist. Der Vergleich hinkt freilich, nicht nur, weil der Iran schiitisch ist und die Taliban sunnitisch: Im Iran ist das System mit einer Verfassung und demokratischen Elementen einigermaßen legitimiert.

Welche Autorität Taliban-Chef Akhundzada tatsächlich hat, wird des Öfteren infrage gestellt. Immer wieder berichteten Medien in der Vergangenheit, de facto habe Abdul Ghani Baradar das Sagen. Er leitete das Politbüro in Doha und führte die Delegation der Taliban in den Verhandlungen mit den USA und gilt allein deswegen als moderat – soweit es das bei den Taliban überhaupt gibt. Von 2010 bis 2018 saß er in pakistanischer Haft, bis die USA für seine Freilassung intervenierten.

Favorit auf hohes Amt nur Vize

Baradar wurde immer wieder als möglicher Präsident Afghanistans gehandelt. In der vor Kurzem vorgestellten Übergangsregierung steht er – ebenso wie ein weiteres Mitglied der Doha-Gruppe, Abdul Salam Hanafi – als Vizeregierungschef nur in der zweiten Reihe.

Mullah Abdul Ghani Baradar
APA/AFP/Karim Jaafar
Baradar scheint in der Taliban-Hierarchie eher auf dem absteigenden Ast

Am Montag sahen sich die Taliban dazu genötigt, Berichte über den Tod von Baradar zu dementieren: Diese seien „Lügen“ und „falsche Propaganda“. In Onlinenetzwerken hatten sich zuvor Spekulationen verbreitet, Baradar sei bei einer Schießerei zwischen rivalisierenden Taliban-Gruppen im Präsidentenpalast in Kabul tödlich verletzt worden.

Regierungschef wurde – eher überraschend – Mohammad Hassan Akhund. Er war während des ersten Taliban-Regimes stellvertretender Außenminister – und dabei auf sehr konfrontativem Kurs. Akhund war wie Akhundzada ein enger Vertrauter des Taliban-Gründers Mohammad Omar. Neuer Außenminister ist Amir Khan Muttaqi, wiederum einer der Doha-Verhandler, der eher eine moderate Linie vertritt.

Mullah Mohammad Hassan Akhund
Reuters/Muzammil Pasha
Regierungschef Akhund auf einem Archivbild, sein Alter ist unbekannt, er soll zwischen 1945 und 1958 geboren sein

Sohn von Taliban-Gründer als Aufsteiger

Kritik am Politbüro in Katar wurde sogar mehr oder weniger öffentlich laut: Die Bilder von Taliban in Luxushotels stießen Teilen des militärischen Flügels sauer auf. Diejenigen, die „in Doha in Luxus leben“, könnten denjenigen, die an den Kämpfen in Afghanistan beteiligt sind, keine Bedingungen diktieren, sagte etwa Mohammad Yaqoob laut der Plattform Asia Times.

Er ist der älteste Sohn von Taliban-Gründer Mohammad Omar und konnte trotz seines vergleichsweise jungen Alters in den vergangenen Monaten deutlich an Einfluss gewinnen. Im Vorjahr hieß es, sowohl Taliban-Chef Akhundzada als auch sein Stellvertreter Sirajuddin Haqqani seien schwer an Covid-19 erkrankt. Yaqoob übernahm – zumindest für einige Zeit – die operative Führung. Zudem stieg er zum Militärchef der Taliban auf. Nun wird er Verteidigungsminister der Übergangsregierung in Kabul und Haqqani Innenminister.

Haqqani-Terrornetzwerk stark vertreten

Letztere Besetzung hatte international für die meiste Empörung gesorgt. Das mehrere tausend Kämpfer große Haqqani-Netzwerk hält Verbindungen zu al-Kaida und wird für einige der opferreichsten Terroranschläge verantwortlich gemacht. Sirajuddin Haqqani gilt als Chef des Netzwerks und wenig überraschend als Hardliner, er wird als Terrorist vom FBI gesucht, genauso wie sein Onkel Khalil Haqqani, der kurz Sicherheitschef von Kabul war und nun Minister für Flüchtlinge ist.

FBI Steckbrief zu Sirajuddin Haqqani
Reuters/FBI
FBI fahndet nach Haqqani

Das Netzwerk steht, heißt es von den meisten Beobachtern, in engem Kontakt mit dem pakistanische Militärgeheimdienst ISI, der nicht nur die Taliban unterstützt, sondern schon in den 1990er Jahren maßgeblich für ihren Erfolg verantwortlich war. Vielleicht auch deswegen sind gleich mehrere Vertreter in der Regierung zu finden.

Demgegenüber wird Yaqoob dem moderateren Taliban-Lager zugerechnet, das zur Legitimation ihrer Herrschaft auch auf politische Kontakte zu anderen Gruppen setzt. So soll er Gespräche mit der gestürzten afghanischen Regierung geführt haben und eher darauf bedacht sein, die USA nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Umgekehrt wird ihm militärisch Erbarmungslosigkeit nachgesagt. Yaqoob soll vor allem in Saudi-Arabien Unterstützer haben.

Iran-Fraktion spaltete sich ab

Bei einer anderen Bruchlinie ist eine Abspaltung schon vollzogen. Weil sie gegen die Verhandlungen mit den USA waren, gründeten bereits im Vorjahr einige aus dem Iran unterstützte Taliban eine eigene Gruppe, wie unter anderem Radio Free Europe berichtete. Auch Ex-Militärchef Ibrahim Sadr und der ranghohe Kommandant Abul Qayyum Zakir sind für ihre Verbindungen in den Iran bekannt. In einer ersten Ministerliste von Ende August schienen sie noch als neue Innen- bzw. Verteidigungsminister auf. Bei der vor wenigen Tagen präsentierten Regierungsriege kamen sie nicht mehr vor.

Auffällig ist auch, dass die Taliban dezidiert von einer Übergangsregierung sprechen, also personell mit weiteren Änderungen zu rechnen ist. Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid begründete das Vorgehen damit, dass so die „notwendigen Regierungsarbeiten“ angegangen werden könnten. Laurel Miller, Afghanistan-Expertin der Denkfabrik International Crisis Group, vermutet hingegen, dass sich die Islamisten damit noch um schwierige und potenziell kontroverse Fragen drücken können – etwa welches Staatssystem das Land haben soll.

Hauptsächlich Paschtunen

Eine der schwierigsten Fragen ist dabei, wie der Vielvölkerstaat zu regieren ist, wenn die Führungsriege zum Großteil aus einer Ethnie stammt: Bis auf drei sind alle Minister Paschtunen – zwei Minister sind Tadschiken, einer ist Usbeke. Rund 40 Prozent aller Afghanen sind Paschtunen – unter ihnen haben die Taliban auch den größten Rückhalt. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze verweist im „Standard“ darauf, dass sich vor allem die paschtunische Landbevölkerung nach Jahrzehnten der Kriegswirren nicht nur nach Stabilität und Ruhe sehne. Die Taliban würden vor allem auch die traditionellen „Sittengesetze und Sittenordnungen“ sichern – auch wenn sie sie mit einer „islamischen Orthodoxie“ fusionieren.

Paschtunischer Bauer in Afghanistan
APA/AFP/
Paschtunen leben vor allem in den armen, ländlichen Gebieten Afghanistans

Viele Ethnien, viele Sprachen

Doch bei den andern Volksgruppen sieht es anders aus. Die Tadschiken stellen als zweitgrößte Gruppe rund ein Viertel der Bevölkerung, aber die Mehrheit in Städten wie Kabul und Herat. Sie sprechen Dari (Persisch), das gemeinsam mit Paschto auch offizielle Amtssprache ist. Bisher wurde in Kabul vor allem Dari gesprochen, die Taliban wollen nun alles auf Paschto umstellen, was aber zur Folge hat, dass in der Hauptstadt in einer Sprache kommuniziert wird, die der Großteil der Bevölkerung nicht versteht.

Rund zehn Prozent der Bevölkerung sind Usbeken, rund neun Prozent gehören der Minderheit der Hazara an. Sie sind die größte schiitische Gruppe in Afghanistan und wurden und werden deshalb auch diskriminiert und verfolgt. Vor allem während des Taliban-Regimes kam es zu Übergriffen und Anschlägen auf Hazara. Zu den größeren Minderheiten zählen Turkmenen und Aimaken mit jeweils deutlich über einer Million Menschen. Darüber hinaus gibt es gut zwei Dutzend weitere Ethnien, teilweise mit eigenen Sprachen bzw. Dialekten.

Grafik zur Bevölkerung Afghanistans
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: National Geographic

Stammes- und Clanstruktur als Spaltpilz?

Doch nicht nur die zahlreichen Ethnien prägen die afghanische Gesellschaft, sondern auch und vor allem die Stammes- und Clanstruktur innerhalb vieler Volksgruppen – allen voran bei den Paschtunen. Die Geschichte Afghanistans hat schon oft gezeigt, dass Allianzen brüchig werden, wenn es um die Interessen der Regionen, Stämme und Clans geht. So wird berichtet, dass die erwähnten Haqqanis, die Helmandis aus der gleichnamigen Provinz im Süden und die nach ihrer Heimatstadt benannten Kandaharis um Ämter rittern. Auffällig ist, dass vor allem die Stämme des Südens und Südostens vertreten sind.

Expertinnen und Experten sehen in der insgesamt 33-köpfigen Regierung nicht nur einen Kompromissversuch zwischen Hardlinern und „moderateren“ Kräften, sondern auch jenen, regionale Stammesinteressen zu befriedigen. Noch deutet zwar wenig darauf hin, aber mit zunehmenden Schwierigkeiten im Ringen um Legitimität könnten die Bruchlinien innerhalb der Taliban für gröbere Konflikte sorgen.

Mike Martin vom Department für die Erforschung von Kriegen am King’s College London formulierte das auf Twitter so: Genau das, was den Taliban „die Machtübernahme ermöglichte – eine Reihe lokaler Abkommen entlang der Stammesgrenzen“ –, könnte sie auch wieder zu Fall bringen.