„Mr. Brexit“ Barnier überrascht mit EU-kritischen Aussagen

Der 70-jährige Michel Barnier, früher EU-Kommissar, Sonderberater von Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Brexit-Chefunterhändler will nun französischer Präsident werden. Im Pariser Wahlkampf sind die Töne schon jetzt rau, obwohl das nächste Staatsoberhaupt erst 2022 gewählt wird. Barnier verkündete vergangene Woche seine Kandidatur und scheint auf einen stark EU-kritischen Kurs zu gehen – was angesichts seiner Laufbahn viele ehemalige Mitstreiter in den EU-Institutionen überrascht.

Wie das Onlinemagazin Politico berichtet, forderte Barnier gestern auf einer Veranstaltung seiner konservativen Republicains eine Beschränkung des Einflusses europäischer Gerichte in Migrationsfragen. Frankreich seine „rechtliche Souveränität zurückgewinnen, um nicht länger den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen zu sein“, so Barnier. Auch solle es ein Referendum zum Thema Einwanderung geben.

Klage über schwindende Macht in Brüssel

Außerdem forderte er die Rückkehr französischer Macht in der EU – gegenüber Deutschland habe man viel davon eingebüßt. „Wir müssen den französischen Einfluss wieder aufbauen. Es ist notwendig, den dominierenden deutschen Einfluss auszugleichen.“

Die Aussagen wurden auch in sozialen Netzwerken verbreitet, eine Flut an Reaktionen war die Folge. Offenbar um Schaden zu begrenzen, twitterte Barnier schließlich: „Lasst uns ruhig bleiben“. Er habe lediglich ein „konstitutionelles Schutzschild“ vorgeschlagen, das sich ausschließlich auf Einwanderungsfragen beziehen solle.

Moratorium als Wahlversprechen

Schon im Juli hatte Barnier in der Tageszeitung „Le Figaro“ erklärt, was er unter diesem „Schutzschild“ versteht: Er fordere für Frankreich ein Einwanderungsmoratorium von drei bis fünf Jahren. Damit dieses nicht unter Verweis auf internationale Verpflichtungen gekippt werden könne, brauche es eine Verfassungsänderung.

Sein Sprecher sagte gegenüber Politico, Barniers Bemerkungen hätten allein das Thema Einwanderung betroffen. Die Einschätzung, das EU-Recht würde Frankreich davon abhalten, seine Migrationspolitik zu gestalten, nahm er nicht zurück.

Gegen Rosinenpicken

Barnier wurde vor allem in seiner Rolle als Unterhändler für den Brexit bekannt. Während dieser Gespräche brachte auch die britische Seite wiederholt das Argument vor, man habe durch die EU an Souveränität verloren. Barnier selbst kritisierte London des Öfteren, man wolle sich im Verhältnis zur EU nur die Rosinen herauspicken. „Michel Barnier zeigt meisterhaft, wie Sie Ihre Karriere und Ihr Vermächtnis zerstören können, in der verzweifelten Hoffnung, für eine Wählerschaft gewählt zu werden, die Sie trotzdem einfach nicht mag“, sagte Julien Hoez vom European Liberal Forum gegenüber Politico.

EU-Kommission zurückhaltend

Die Aussage ist auch kontrovers, weil sich europäische Gerichte seit Jahren Angriffen aus Staaten wie Polen und Ungarn ausgesetzt sehen, die deren Autorität anzweifeln. Die EU-Kommission gab sich aber zurückhaltend. Barnier könne gemäß der Meinungsfreiheit auch abweichende Ansichten äußern, zumal in Frankreich Wahlkampf sei, so ein Sprecher. Die EU-Verträge, denen alle Mitgliedsländer zugestimmt hätten, seien sehr klar. Migration sei eine gemeinsame Aufgabe der EU.

Der Sprecher erklärte zu dem ebenfalls von Barnier infrage gestellten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Dieser stelle die Einhaltung der Grundrechte auf dem Kontinent sicher und sei „das Herzstück des Nachkriegseuropas“. Auf den Grundsätzen und Werten des Gerichtshofs beruhe auch die Europäische Union.

Auch aus dem EU-Parlament kam Kritik. „Die Worte Barniers untergraben die Position der EU-Kommission, die versucht, die Priorität des EU-Rechts gegen die Angriffe vonseiten Ungarns, Polens und sogar des deutschen Verfassungsgerichts zu verteidigen“, schrieb der konservative polnische Europaabgeordnete Jacek Saryusz-Wolski auf Twitter.