Italienische Tageszeitungen an einem Zeitungsstand nach dem Seilbahnunglück
AP/Antonio Calanni
Entführung?

Rätsel um Kind nach Seilbahnunfall in Italien

Nach dem Seilbahnunglück am Lago Maggiore im Mai ist der einzige Überlebende, ein sechsjähriger Bub, aus Italien nach Israel gebracht worden. Um das Kind war nach dem Unfall ein Sorgerechtsstreit entbrannt – italienische Medien berichteten am Sonntag von einer Entführung, die Tante, der richterlich angeordnete Vormund, erhob schwere Vorwürfe. Die Verwandtschaft in Israel widerspricht dieser Darstellung.

Der sechsjährige Eiran hatte am 23. Mai als Einziger den Seilbahnunfall auf dem Monte Mottarone überlebt, bei dem neben seinen Eltern, dem Bruder und zwei Urgroßeltern auch neun weitere Menschen starben. Nach dem Unglück entbrannte ein Sorgerechtsstreit um das Kind zwischen den Verwandten väterlicherseits in Italien und der Familie der Mutter in Israel. Italienische Medien berichteten am Sonntag nun übereinstimmend von einer „Entführung“, nachdem das Kind gestern von seinem Großvater nach einem Besuch nicht wie verabredet bei der Tante väterlicherseits abgegeben worden sei.

„Der Bub ist vom Großvater nach Israel gebracht worden, und das gegen den Willen der Erziehungsberechtigten und trotz eines vom Gericht ausgesprochenen Verbots, das Land zu verlassen“, teilte Massimo Sana, der Anwalt der Tante, der dpa mit. „Wir machen uns so große Sorgen“, sagte unterdessen die Tante, als sie vor ihrem Haus in Pavia mit der Presse sprach. Eitan sei „italienischer Staatsbürger, Pavia ist sein Zuhause, wo er aufgewachsen ist, wir warten zu Hause auf ihn“, zitiert der italienische Rundfunk Rai die Tante.

Tante mit Vorwürfen gegen Familie in Italien

Die Tante mütterlicherseits in Tel Aviv hatte unterdessen im Vormonat einen Adoptionsprozess in die Wege geleitet. Ihr Anwalt behauptet im Gegenzug, dass der kleine Bub als Geisel genommen werde, schreibt der britische „Guardian“.

„Wir haben Eitan nach Hause zurückgebracht“, sagte die Frau am Sonntag dem israelischen Radiosender 103FM. Der Bub sei der in Israel lebenden Familie „unrechtmäßig entzogen“ worden, er stehe ihr und der Familie der Mutter näher als der Tante in Italien. „Bei dem Treffen hier hat er vor Rührung geschrien und gesagt: Endlich bin ich in Israel“, behauptete die Frau.

Staatsanwaltschaft ermittelt

Die Staatsanwaltschaft in der norditalienischen Stadt Pavia ermittelt bereits wegen Kidnappings. Gleichzeitig würden internationale Regelungen geprüft, um den Buben nach Italien zurückzuholen, so der Anwalt. Auch diplomatische Kanäle wurden demzufolge aktiviert.

Das israelische Außenministerium teilte mit, man prüfe den Fall. Auch die israelische Botschaft ist eingebunden: „Wir beobachten die Situation“, so ein Sprecher gegenüber der italienischen Nachrichtenagentur AGI – momentan seien noch keine weiteren Details bekannt.

Unfallursache wird noch immer untersucht

Die genaue Unfallursache des Seilbahnunglücks ist immer noch Teil von Ermittlungen. Die „Black Box“ der Kabine wurde zuletzt von der Unglücksstelle geborgen – die Auswertung könnte bis zu drei Monate dauern, schreibt der „Guardian“. Die Daten könnten helfen, die Frage zu klären, ob es Anomalien im Seilbahnsystem gegeben habe. Gegen 14 Mitarbeiter der Firma, die die Seilbahn gebaut und gewartet hat, und gegen die Firma, die die Bahn betrieben hat, wird ermittelt.

Auch die Gondel soll abtransportiert werden. Sie werde am 15. Oktober vom Monte Mottarone im Piemont entfernt, entschied ein Gremium aus Sachverständigen und Juristen vergangene Woche im Gericht in Verbania. Ein wichtiges Verbindungsstück am Zugseil, das in einem Baum stecke, werde von der Feuerwehr am kommenden Montag geborgen.

Disziplinarverfahren gegen Richterin

Einem Bericht der Turiner Zeitung „La Stampa“ zufolge wurde unterdessen gegen den Präsidenten des zuständigen Gerichts in Verbania und gegen eine dortige mit dem Fall betraute Richterin ein Disziplinarverfahren eröffnet. Das Blatt berief sich auf eine Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft des Kassationsgerichts. Diese wirft den beiden demnach unter anderem einen Mangel an professioneller Sorgfalt sowie Fehlverhalten gegenüber anderen Richtern vor.

Am 23. Mai riss kurz vor der Bergstation das Zugseil der mit 15 Menschen besetzten Seilbahn. In diesem Moment hätten die Notbremsen am Tragseil greifen müssen. Diese waren den bisherigen Ermittlungen zufolge aber mit Klammern blockiert, weil sie im laufenden Betrieb für Störungen gesorgt haben sollen.