700. Todestag

Die drei Träume des Dante Alighieri

An der Gestalt mit dem strengen Blick und der markanten Nase scheint die Identität eines ganzen Landes zu hängen. Doch nicht nur Italien, ganz Europa steht bei Dante Alighieri in der Schuld. Vor 700 Jahren starb er verbittert im Exil in Ravenna – und hinterließ der Welt mit der „Göttlichen Komödie“ ein Buch, das man auch als Ursprung der politisch engagierten Literatur ansehen kann. Mit drei zentralen Vorstellungen weist Dante jedenfalls weit über das Mittelalter hinaus.

„Incipit vita nova“, „hier beginnt das neue Leben“: Mit großem Selbstbewusstsein tritt da jemand zu Ende des 13. Jahrhunderts aus lokalen Dichterstreitereien im politisch unruhigen Italien an das Licht der Öffentlichkeit, um mit dem gleichnamigen Werk einen Anspruch zu markieren: Sich über die „Vita Nova“ als Dichter zur zentralen Gestalt des Inhalts seines Werkes zu machen und ein, wie er es selbst formuliert, „libro della mia memoria“ zu verfassen. Wer die Erinnerung an sein eigenes, früheres Leben hochhält, der ist sich seiner Sendung bewusst – ein Umstand, den man davor vielleicht noch am ehesten von Augustinus kennt, der ja vom Saulus der Lust zum Paulus der Tugendhaftigkeit geworden war. Selbstverständlich sind die Ansprüche, die Dante da formuliert, im Florenz des Jahres 1295 jedenfalls nicht.

Dante Alighieri war aus dem niederen Adel zu höheren politischen Weihen aufgestiegen – und unterfütterte seine zunehmende öffentliche Rolle mit einem Stück Literatur, das vordergründig seine eigene Liebe zu einer jungen Frau namens Beatrice rekonstruieren will: Ein Weg von den ersten Regungen der Triebe hin zu einer hohen Tugendhaftigkeit, Entsagung und Idealität wird darin verhandelt. Das, so könnte man einwenden, ist im Schatten mittelalterlicher Troubadourskunst noch kein Akt der Kühnheit.

Porträt von Dante Aligheri von Sandro Botticelli
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Eines der bekanntesten Porträts von Dante Alighieri (1265–1321) stammt aus der Renaissance von Sandro Botticelli

Überdurchschnittliches Sendungsbewusstsein

Die Art, wie sich Dante aber selbst zum Thema macht, Autor und Gegenstand des Werkes wird, verrät doch ein überdurchschnittliches Selbstbewusstsein – und auch eines, das ihm bald zum Problem werden sollte. Dante exponiert sich im Stadtstaat Florenz, der im Spätmittelalter zu einem der führenden frühkapitalistischen Zentren Europas aufsteigt, an der falschen Seite. Ein Streit zwischen den kaisertreuen Weißen, den Ghibellinen, und den papsttreuen Schwarzen, den Guelfen, durchzieht die Stadt – und eher, so könnte man vereinfachend sagen, setzt Florenz im Kräftemessen mit anderen rivalisierenden Städten der Toskana auf eine Nähe zum Papst als zum Kaiser. Im Schatten des Papsttums würde die Selbstständigkeit eher bewahrt werden können als unter einer kaiserlichen Zentralgewalt (die freilich im Mittelalter eine andere war als zu antik-römischer Zeit).

Hat sich der um 1265 geborene Dante als junger Mann, wie es Biografen des 15. Jahrhunderts festhielten, im Kampf gegen das ghibellinische Arezzo an der Seite der Guelfen hervorgetan (Schlacht von Campaldino, 1289), so deklariert er sich im Rahmen seines politischen Aufstiegs, der ihn 1300 sogar in den Rat der neun Prioren bringt, inhaltlich zunehmend im Feld der kaisertreuen Weißen.

Dante trifft Beatrice im Paradies, in der Vorstellung des Malers Dante Gabriel Rosetti
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Dante und die idealisierte Liebe zu Beatrice. Hier in einer Darstellung des Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti, dessen Vater tatsächlich ein großer Dante-Experte war.

„Mein unseliges Priorat“

„Alles Unglück, alle Widerwärtigkeiten hatten ihre Ursache und ihren Anfang in den unseligen Gegebenheiten meines Priorats“, wird Dante später festhalten. Die von ihm zunächst gewünschte Neutralität gibt es bei politischen Ämtern in Florenz nicht. Papst Bonifaz VIII. will die Toskana zu seinem Vikariat machen und schickt 1301 Karl von Valois, der auch die Hand nach der Kaiserkrone ausstreckt, als scheinbaren Vermittler und Friedensstifter nach Florenz. Dante wiederum ist Teil einer Delegation, die in Rom beim Papst vermitteln will. Doch in Florenz wird die Fraktion der Schwarzen ganz im Sinne des Papstes die bestimmende.

Den Weißen wird der Prozess gemacht, Dante in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Er sollte, trotz einer späteren Rehabilitierung, seine Heimatstadt nie wieder betreten (und auch viel von seinem Status verlieren, weswegen über sein Leben nach 1300 eine mehr als schlechte Überlieferung vorliegt). Diese Abdrängung ins Exil sollte zur entscheidenden Triebfeder für sein Hauptwerk „Die Göttliche Komödie“ (1300–1321) werden – und nicht von ungefähr tauchen im „Inferno“ und „Purgatorio“ zahlreiche Zeitgenossen Dantes aus seiner Florentiner Zeit auf.

Dante Alighieri erleuchtet mit seinem Buch “Die Göttliche Kommödie” die Stadt Florenz. (Links das Inferno, im Hintergrund das Purgatorio, oben das Paradies). – Gemälde, 1465, von Domenico di Michelino, Dom S. Maria del Fiore.
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Dante-Darstellung im Florentiner Dom Santa Maria del Fiore. Der Dichter steht nicht nur vor der Brunelleschi-Kuppel. Zur Zeit der Renaissance wird er hochverehrt. Im linken Teil des Bildes die drei Kapitel der „Göttlichen Komödie“ – „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradies“

Dantes drei große Träume

Die Erfahrungen Dantes in Florenz, sein Wettstreit mit dem Dichter Guido Cavalcanti und auch seine politische Positionierung werden folgenreich für die Haltung, die er mit seinem schriftstellerischen Werk vertritt. Dantes große Leistung, sein Traum, wenn man so will, ruht auf drei Standbeinen:

  • der Erhebung der Volkssprache zur Sprache der Literatur und Triebfeder der Poesie,
  • der Idee von einem größeren Verbund einer kulturellen und politischen Identität, die die Stadtstaatenkonflikte seiner Zeit überwindet und zur Bildung einer gemeinsamen Sprachen- und Wertegemeinschaft führt
  • und der Überwindung der Erkenntnisgrenzen seiner Zeit: In der „Göttlichen Komödie“ werden die Bereiche des Vorstell- und Denkbaren überschritten.

Dantes erster Traum: Schreiben in der Sprache der Mutter

Dante zieht los, um die Sprache seiner Herkunft zum Gestaltungsmittel von Literatur und auch philosophisch angelegten Traktaten zu machen. Er schreibt keine Philosophie, möchte aber Stellung beziehen: Heute würde man fast sagen, er schreibt eine eigentlich politische Literatur, die bewusst an die Grenzen der damaligen Erkenntnismodelle gehen mag – ohne in den Status spekulativer Schulphilosophie oder -theologie eingehen zu können. Deshalb wählt er bis auf kleinere Ausnahmen das Italienisch seiner Zeit als Hauptmedium seines Ausdrucks. Und wenn er auf Latein schreibt, dann auch, um in der Reflexion das volgare, also die Sprache des Alltags, zu rehabilitieren.

Dante sieht nicht mehr das Lateinische als die notwendigerweise festgesetzte Ewigkeitssprache, zumindest nicht als eine, die über der Volkssprache stehen müsse. Für ihn, so formuliert es der bekannte Romanist Karlheinz Stierle (in einem nicht immer ganz fehlerfreien Buch über Dante), gebe „es einen ontologischen Vorrang der Sprache, die das Kind von seiner Mutter lernt und die ihm seine Welt eröffnet“. Dieser Punkt der Welteröffnung sollte noch ein entscheidender Anspruch im Werk Dantes sein. Dantes Überlegungen, die er sendungsbewusst in einen lateinischen Text, „De vulgari eloquentia“ („Über die Beredsamkeit in der Volkssprache“), setzt, markieren den Beginn der neuzeitlichen Sprachreflexion.

Buchmalerei, Giovanni di Paolo, Siena, um 1438/44. Dante und Beatrice vor dem Licht Gottes
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Dante und Beatrice beim Anblick des Licht des Herren in der Vorstellung des 15. Jahrhunderts

Dante hält das volgare, das er aus seiner Heimat kennt, für die Verschriftlichung ebenso geeignet wie das Französische. Mehr noch: Dante formuliert so etwas wie die Überlegenheit des Italienischen vor dem Französisch-Provenzalischen, sei es doch in größerer Nähe zur grammatica, also der Sprache des imperialen Roms entstanden. Dante suche, wie Stierle es beschreibt, so etwas wie die „verborgene Einheit“ des volgare, auch wenn das Toskanisch seiner Heimat nicht das verbürgen könne, was er sich erträume: ein vorbildliches Italienisch als „latinum illustre“.

„Dieses ist keinem italienischen Idiom eigen und doch in allem enthalten, nach dem wir jagen und das in allen italienischen Städten seinen Duft verbreitet, aber nirgends niedergelassen hat“, schreibt Dante selbst.

Beatrice erklärt Dante das Entsehen des Monds. Seite der Göttlichen Komödie aus dem 15. Jahrhundert
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Ausgabe der „Commedia“ des 15. Jahrhunderts: Beatrice erklärt Dante die Entstehung des Mondes

Dantes zweiter Traum: Das ideale Imperium

Für die Absicherung seiner Sprachabsichten richtet sich Dantes Blick nach Rom. Allerdings solle von dort kein Papst, sondern ein Herrscher im Zuschnitt eines Kaisers das Reich regieren. Mit der Verdammung aus Florenz wird Dantes Traum von der Notwendigkeit eines Imperiums immer größer. Als der 1309 in Aachen zum Deutschen König gekrönte Heinrich VII. mit seinem Heer nach Italien zieht, um sich in Rom zum Kaiser krönen zu lassen, ist Dantes Vorerwartung riesengroß. In „maßloser Selbstüberschätzung“, so Stierle, richtet Dante ein Sendschreiben an die Senatoren Roms, Fürsten und Landgrafen. „Trockne die Tränen und vertreibe die Zeichen deiner Trauer, du Allerschönste, denn nahe ist, der dich aus dem Gefängnis des Gottlosen befreit“, schreibt er in einem Brief. Heinrich wird zwar 1312 in Rom Kaiser, doch schon ein Jahr später stirbt er auf italienischem Boden, ohne Dantes Heimatstadt Florenz eingenommen zu haben.

Dante Alighieri und seine „Göttliche Komödie“

Vor 700 Jahren starb er verbittert im Exil in Ravenna – und hinterließ der Welt mit der „Göttlichen Komödie“ ein Buch, das man auch als Ursprung der politisch engagierten Literatur ansehen kann.

Ein Imperium hätte für Dante einen welthistorischen Auftrag. Es soll sich über alle Grenzen lokaler Gegebenheiten erheben und so etwa verbindliche Standards schaffen – auch weil er spürt, dass nur ein geeintes Vorgehen, etwa in der Wissenschaft, die Horizonte erweitern könne. Zwar steht Dante noch fest in der Tradition dessen, was man (durchaus zu problematisieren) das Mittelalter nennt. Doch er hat das Gefühl, dass die Neugierde, die curiositas, nicht wie bei Augustinus noch ein zu verdammender Trieb ist, sondern die Triebfeder dazu, neue Thesen zu formulieren – und neue Erfahrungen zu sammeln.

Im 26. Gesang des „Inferno“ seiner „Göttlichen Komödie“ kehrt Odysseus nach dem Entrinnen der Sirenen nicht zurück nach Ithaka heim, sondern lässt sich auf das letzte Abenteuer der Überschreitung der bekannten Welt ein und durchfährt die Säulen des Herkules. „Bedenkt den Samen, den ihr in euch tragt“, lässt Dante den Odysseus zu seinen Kameraden sagen: „‚Geschaffen wart ihr nicht, damit ihr lebtet wie die Tiere, vielmehr um Tugend und Erkenntnis anzustreben.‘ / Meine Gefährten machte ich mit dieser kurzen Rede so begierig auf die Fahrt, dass ich sie danach nur mit Mühe noch hätte zurückhalten können. / Wir wendeten das Hecke dem Morgen zu, machten dem törichten Flug mit den Rudern Flügel.“ (Übersetzung Hartmut Köhler)

Illustration des Paradiso von Sandro Boticelli
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Skizze von Botticelli zu Dantes Paradies

Dantes dritter Traum: Die neue Neugierde

Dante und Vergil treffen Odysseus im achten Höllenkreis der „Komödie“ und erfahren von ihm selbst, so will es die Inszenierung des Dichters, der immer den größten römischen Autor für das Mittelalter an seiner Seite weiß, wie der antike Held Schiffbruch erlitten habe. „Dante“, so schreibt der Philosoph Hans Blumenberg, „lässt seinen Odysseus im Zwielicht stehen. Das tollkühne Unternehmen (folle volo) führt nicht in die gesuchte neue Erfahrung einer unbewohnten Welt, sondern der Jubel der Gefährten beim Anblick eines unbekannten Landes (nuova terra) erstirbt in Sturm und Untergang.“ Das eigenmächtige Unterfangen des Odysseus wird bei Dante noch an die Führung einer höheren Macht gebunden. Aber, so Blumenberg: Im Schatten der Überlegungen eines Siger von Brabant und der von diesem aufgeworfenen Frage nach der „Erfüllbarkeit des Erkenntnisanspruches“ sei ein neues Curiositas-Prinzip in die Welt getreten, das eindeutig Richtung Neuzeit verweise. Die Neugierde des Menschen wird nicht von vornherein wie bei Augustinus an die Stellung des Menschen im Heilsgeschehen gebunden – „sie nimmt auf den gefallenen Menschen keine Rücksicht“.

Buchhinweise

  • Karlheinz Stierle: Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. C. H. Beck.
  • Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Suhrkamp.

Die lesbarste Ausgabe der „Göttlichen Komödie“ liegt durch Hartmut Köhler (2009) bei Reclam vor. Die „Vita Nova“ liegt in zahlreichen Ausgaben vor.

„Dante hat in seinem ‚System‘ eine neue Stelle geschaffen, die ein neues Bewusstsein umbesetzen und umwerten konnte“, schreibt Blumenberg: „Im ausgehenden 16. Jahrhundert konnte Torquato Tasso mit deutlicher Anspielung auf den 26. Gesang des ‚Inferno‘ die Überschreitung der Säulen des Herkules neu sehen und werten, weil Kolumbus die nuovo terra inzwischen erreicht und betreten hat. Die Selbstbestätigung der menschlichen Neugierde ist zur Form ihrer Legitimation geworden.“ Oder, wie es Blumenberg noch kürzer formuliert: Die Geschichte ist zur Instanz gegen die Metaphysik geworden.

Dante darf auf denselben Berg steigen, an dem Odysseus noch scheitert. Als Mensch des Mittelalters bindet er sein Unterfangen an den Heilssinn und überlässt sich nicht dem eigenen Willen und der Begierde nach Erfahrung. Wenn 15 Jahre nach Dantes Tod ein gewisser Francesco Petrarca auf den Mont Ventoux steigt, dann inszeniert er den Akt der Bergbesteigung als Leser Dantes als einen Akt des Ungeheuerlichen.

Mit Dante, so sagt Blumenberg, „zeichnet sich Neues ab“ – und metaphysische Vorbehalte würden nicht mehr fraglos gelten. Dantes Vorahnungen entstehen im Exil. Und seine Kinder müssen die letzten Seiten der „Commedia“ aus einer Wandritze retten, weil sie der Autor aus Furcht vor Verfolgung dort eingemauert hatte.