Baggergerät in der Kohlemine Garzweiler
Reuters/Wolfgang Rattay
Stromerzeugung

Wunsch und Wirklichkeit beim Kohleausstieg

Deutschland hat den Kohleausstieg mit 2038 beschlossen, 2045 will Europas größte Volkswirtschaft klimaneutral sein. Gleichzeitig kam der Großteil des produzierten Stroms zuletzt wieder aus Kohlekraftwerken. Unabhängig von aktuellen Zahlen waren Rufe nach einem früheren Ausstieg zuletzt lauter geworden, auch im deutschen Wahlkampf. Der Abschied vom Kohlestrom ist allerdings in mehrfacher Hinsicht schwer.

Deutschland ist damit nicht allein, aber „grün“ íst anders. Laut Daten des deutschen Statistischen Bundesamtes kam mehr als die Hälfte des im ersten Halbjahr 2021 erzeugten Stroms aus konventionellen Quellen: Stein- und Braunkohle, Atomenergie, Erdöl und Erdgas, gesamt 56 Prozent (oder knapp 259 Mrd. Kilowattstunden, kWh), was einem Anstieg von knapp 21 Prozent entsprach. Der Anteil erneuerbarer Energieträger ging um 11,7 auf 44 Prozent zurück.

Kohle, so die Rechnung des Bundesamts mit Sitz in Wiesbaden (Hessen), löste die Windkraft in den letzten beiden Quartalen auf Platz eins ab. Ein Grund sei das windarme Frühjahr gewesen, hieß es dazu am Montag. Die Folge war ein Rückgang des Anteils am gesamten Energiemix um knapp 21 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020. Er liegt laut den Zahlen der Statistikbehörde aktuell bei 22,1 Prozent (nach 29,1 Prozent im Vorjahr) und damit auf dem niedrigsten Niveau seit 2018.

Lücke im Energiemix

Gefüllt wurde die Lücke durch – mittlerweile höchst umstrittenen – Strom aus der nachsweislich stark klimaschädlichen Verbrennung von Stein- und Braunkohle. Sein Anteil von rund 70 Mrd. kWh stieg im Jahresabstand um mehr als ein Drittel (35,5 Prozent) auf 27,1 Prozent (nach 20,8 Prozent im ersten Halbjahr 2020). Insgesamt war nach Kohle und Windkraft mit einem Anteil von rund 14 Prozent Erdgas der drittwichtigste Energieträger in Deutschland, gefolgt von Kernenergie (12,4 Prozent).

Kohleabbau und Kohlekraftwerk Garzeweiler im Hintergrund
Reuters/Wolfgang Rattay
Der riesige Tagebau Garzweiler in Nordrhein-Westfalen: Sinnbild einer zu Ende gehenden Industrieepoche

Anhand der Zahlen zeigt sich das deutsche Dilemma einmal mehr deutlich: Kohle ist Energieträger Nummer eins, Atomenergie Nummer vier, aber die größte Volkswirtschaft Europas will schon sehr bald ohne beide auskommen. Randnotiz: Laut Bundesamt verbraucht die deutsche Industrie mit unter zehn Prozent am wenigsten Strom aus erneuerbaren Energieträgern wie Wind- und Wasserkraft, Photovoltaik, Biogas, wobei gleichzeitig der Gesamtverbrauch der Betriebe steigt. Fallen mittelfristig Kohle und Kernenergie weg, tut sich eine enorme Lücke auf, die zu füllen nicht mehr viel Zeit bleibt.

Auch AKWs werden nächstes Jahr abgeschaltet

Die beiden Ausstiegsszenarien: Deutschland will sich laut Beschluss im Atomgesetz (AtG) 2011 mit kommendem Jahr von der Atomenergie verabschieden, von der Kohle – nach aktuellem Stand – in nicht einmal mehr 20 Jahren. Aktuell sind noch sechs AKWs am Netz, drei sollen noch heuer stillgelegt werden, die anderen drei „jüngeren“ mit Inbetriebnahme 1998/1989 im nächsten Jahr.

Atomkraftwerk in Gronhde
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Die letzten deutschen AKWs gehen spätestens Ende Dezember 2022 vom Netz

Abgesehen von der gewohnt kontrovers geführten AKW-Debatte ist auch die Verbrennung fossiler Rohstoffe wie Kohle und Erdöl vor dem Hintergrund der Klimakrise zunehmen umstritten. Deutschland will spätestens 2038 auf die Nutzung von Stein- und Braunkohle zur Stromerzeugung verzichten. Kohlereviere wurden geschlossen, gegen den Weiterbetrieb bzw. neue Gruben (Stichwort: Hambacher Forst) gab und gibt es immer wieder Proteste.

Enormer Strukturwandel als Folge

Das deutsche Umweltministerium versichert zwar, dass nach dem Ausstieg aus Kohle und Atomstrom „in Deutschland nicht die Lichter ausgehen“ würden, und verweist auf den Ausbau des Sektors Erneuerbare und den Bezug aus den Nachbarländern.

Protest gegen das Steinkohlekraftwerk „Datteln 4“
Reuters/Wolfgang Rattay
Rufe nach einem Ausstieg aus der Kohleverstromung vor dem geplanten Datum 2038

Wunsch und Wirklichkeit liegen hier – siehe aktuelle Zahlen – teils noch weit auseinander. Ein nicht minder großes Problem ist der wirtschaftliche Strukturwandel: Mit dem Ende des Kohlebergbaus gehen unzählige Arbeitsplätze verloren. Sie müssen auf irgendeine Art ersetzt werden.

Die Nachfrage nach Kohle ist derzeit weltweit hoch, das Angebot knapp, der Preis deutlich gestiegen. Ein Hauptgrund ist die rasante Erholung der Wirtschaft, vor allem der Industrie, nach dem Einbruch durch die Coronavirus-Pandemie.

Natürlich auch im Wahlkampf ein Thema

Aktuell mehren sich die Rufe, den Kohleausstieg vorzuziehen. Er war und ist natürlich auch Thema im Vorfeld der Bundestagswahl in Deutschland am 26. September und danach vielleicht Hürde oder Joker in Koalitionsverhandlungen.

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock forderte erst am Wochenende ein früheres Datum. „Die nächste Bundesregierung muss den Kohleausstieg vorziehen auf 2030“, sagte sie und warf Union und SPD vor, die Klimaziele würden verfehlt, weil sie einander nur die Schuld dafür gäben, wer was verhindert habe.

Union und SPD lassen sich eher Zeit

Unionskandidat Armin Laschet (CDU) hatte letzte Woche im ZDF betont: „Das Jahr 2038 steht.“ Zusatz: „Wenn wir es schneller hinkriegen, wenn der Strukturwandel schneller geht, wenn neue Arbeitsplätze da sind, gerne auch früher.“ Die Politik könne aber „nicht jedes Jahr die Zahlen ändern“.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sah zuletzt zumindest Spielraum für einen früheren Ausstieg aus der Kohleverstromung, ohne jedoch konkret zu werden. Je schneller Deutschland mit dem Ausbau erneuerbarer Energien vorankomme, „desto schneller können wir aus der Kohle raus“, sagte er Ende August gegenüber der „Neuen Westfälischen“.

Zuvor hatte sich Scholz dagegen ausgesprochen und bei einem Besuch im ostdeutschen Industriebundesland Brandenburg gesagt: „Wir haben klare Vereinbarungen getroffen, die wichtig sind für die Unternehmen, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch für die Region. Und diese Vereinbarungen gelten und sollten auch eingehalten werden.“

Der steinige Weg zur Klimaneutralität

Grundsätzlich hat die Bundesregierung in Berlin den Weg zur Klimaneutralität im Klimaschutzgesetz beschlossen und erst vor Kurzem das Ziel noch etwas enger gesteckt: Deutschland soll 2045 klimaneutral sein, also nur noch so viele Treibhausgase, vor allem CO2, ausstoßen, wie wieder gebunden werden können. In einem ersten Schritt sollen die CO2-Emissionen bis 2030 um 65 Prozent gedrosselt werden, in einem zweiten Schritt bis 2040 um mindestens 88 Prozent. Österreich will bis zu diesem Jahr bereits klimaneutral sein. Kohlekraftwerk ist nach der Schließung von Mellach in der Steiermark 2020 keines mehr am Netz.