Leere Supermarktregale
Reuters/Andrew Couldridge
100.000 Lkw-Fahrer fehlen

In Großbritannien leeren sich die Regale

Großbritannien leidet unter schmerzhaften Versorgungsengpässen. Der Grund steckt in einem drastischen Mangel an Lkw-Fahrern („Lorry Crisis“): Nicht weniger als 100.000 Lenkerinnen und Lenker fehlen auf der Insel. Supermärkte rechnen mit Preissteigerungen, wenn es so weitergeht – und eine Besserung der Lage ist vorerst nicht in Sicht.

Wegen des Mangels an Lkw-Fahrern klaffen in britischen Supermarktregalen ungewohnt große Lücken, werden Gerichte von der Speisekarte in Restaurants gestrichen und fehlen etwa bei Ikea die Matratzen. Die BBC interviewte einen Milchbauern, der kurz davor stand, Tausende Liter Milch wegzuschütten, da sie nicht abgeholt wurden.

Der „Guardian“ berichtete über gelockerte Regeln für Kläranlagen, die bestimmte Abläufe nicht durchführen können, weil ihnen die entsprechenden Chemikalien fehlen. Es gibt kaum eine Branche, die nicht betroffen ist. Der Lkw-Fahrer-Mangel hat seine Ursachen im Brexit und seinen Hürden. Die Coronavirus-Krise verschärfte die Lage zusätzlich.

Folge von Brexit und Pandemie

Während der Coronavirus-Pandemie verließen viele europäische Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer Großbritannien und kehrten in ihre Heimatländer zurück. Viele von ihnen werden wohl nicht zurückkehren, weil seit dem Brexit die Freizügigkeit für EU-Arbeitskräfte vorbei ist und aufwendige und teure Visaverfahren notwendig sind. Zugleich werden auch in vielen anderen europäischen Ländern Lkw-Fahrer benötigt, sodass die Anziehungskraft Großbritanniens schwindet.

Laut Branchenverband Road Haulage Association verlor Großbritannien allein aus den Ländern der EU rund 20.000 Lkw-Fahrer. Zudem mussten zur Eindämmung der Pandemie viele Fahrschulen vorübergehend schließen. In normalen Jahren schaffen rund 40.000 Menschen die Fahrprüfung für Lastwagen, doch in der Coronavirus-Krise sank diese Zahl um zwei Drittel.

Mehr Lohn für Fahrer

Der Mangel hat laut Experten auch damit zu tun, dass der Beruf des Lkw-Fahrers immer weniger als attraktiv wahrgenommen wird. Lange Wartezeiten in Staus, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ein großer Mangel an geeigneten Parkplätzen, auf denen es sich sicher stehen oder auch duschen und essen lässt. Außerdem werden Lkws als große, laute Umweltverschmutzer wahrgenommen, die andere Verkehrsteilnehmer nicht etwa versorgen, sondern eher stören.

Dabei hat der Fahrermangel die Löhne bereits steigen lassen, für Neueinsteiger zogen diese zwischen Februar und Juli um 5,7 Prozent an, sagte Jack Kennedy, Volkswirt beim Onlinepersonalvermittler Indeed. In der Vergangenheit hatten Gewerkschaften immer wieder niedrige Löhne und schwere Arbeitsbedingungen für die Fahrer kritisiert. 2020 kassierte ein Fahrer im Mittel rund 11,80 Pfund (etwa 13,50 Euro) die Stunde.

Angeheizte Inflation

Die Entwicklung könnte sogar die britische Zentralbank interessieren. Denn der Mangel und die Lohnentwicklung in der Branche könnten ein Signal für Gehaltssteigerungen auch in anderen Berufszweigen sein, die nach der Finanzkrise 2008 nur schwach anzogen. Wenn es so weitergeht, rechnen Experten mit Preissteigerungen. Die Bank von England erwartet 2021 bereits eine Inflationsrate von vier Prozent, was einem Zehnjahreshoch entspräche.

„Hamsterkäufe wie zu Beginn der Coronavirus-Pandemie könnten zum ‚daily business‘ werden, wenn nicht schnell gegengesteuert wird“, warnte der deutsche Logistikexperte Dirk Engelhardt – und er ist nicht allein. In Großbritannien warnte der Chef der Supermarktkette Iceland bereits davor, dass womöglich Weihnachten ausfallen müsse, wenn sich nicht endlich etwas ändere.

Denn schon jetzt sei absehbar, dass es mit den üblichen Vorräten, die Märkte normalerweise vor den Feiertagen anlegen, schwierig werden könnte. Und je näher die Feiertage rückten, desto mehr würden auch die Verbraucherinnen und Verbraucher online bestellen und eine Lieferung erwarten. Ein Sprecher von Premierminister Boris Johnson jedoch sagte, anders als der Lebensmittelverband gehe man nicht davon aus, dass die Knappheiten von Dauer sein werden.

Ruf nach erleichterten Visaregeln

Die britische Wirtschaft hat indes nach dem Ende vieler Coronavirus-Beschränkungen dank kauffreudiger Verbraucher kräftig Fahrt aufgenommen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs von April bis Juni um 4,8 Prozent zum Vorquartal. Auch die Zahl der Erwerbstätigen in Großbritannien liegt nach einem Rekordanstieg im August wieder über dem Vor-Coronavirus-Krisenniveau. Sie stieg im August um 241.000 zum Vormonat auf 29,1 Millionen, wie das Statistikamt am Dienstag in London mitteilte.

„Alle Regionen mit Ausnahme von London, Schottland und dem Südosten liegen jetzt über dem Niveau von vor der Pandemie“, fasste das Statistikamt zusammen. Nicht nur in der Transportbranche wird händeringend nach neuem Personal gesucht. Die Zahl der offenen Stellen markierte in den drei Monaten bis August ein Rekordhoch von 1,034 Millionen.

„Die Arbeitsmarktflaute nimmt schnell ab, während der Mangel an Arbeitskräften zu einem schnelleren Lohnwachstum beiträgt“, sagte Volkswirtin Ruth Gregory von Capital Economics. Viele Arbeitgeber haben Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden. Die Road Haulage Association forderte erleichterte Visaregeln für ausländische Kräfte. Das stößt bei der Regierung in London aber auf Ablehnung.