Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen bei ihrer "Rede zur Lage der Union.
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„Dialog ist kein Selbstzweck“

Von der Leyen mit Ansage an Polen

In ihrer Rede zur Lage der EU hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen angekündigt, demnächst die ersten Verfahren gegen Polen und Ungarn auf den Weg zu bringen. Die beiden Mitgliedsländer könnten dann wegen Rechtsstaatsverstößen um EU-Mittel umfallen. Aus Polen kommen harsche Töne – und die Auskunft, man wolle in der EU bleiben.

Von der Leyens Rede am Mittwoch in Straßburg war eine Tour de Force durch Europas Themenlandschaft. Pandemie, Klimakrise und Wirtschaftserholung waren nur einige der großen Bereiche. Als Lehre aus der Pandemie sollen in den kommenden sechs Jahren außerdem 50 Milliarden Euro in die Gesundheitsvorsorge der gesamten EU investiert werden. Kein Virus dürfe aus einer lokalen Epidemie jemals wieder eine globale Pandemie machen, sagte von der Leyen. Zugleich soll die geplante EU-Behörde HERA zur Vorsorge von Gesundheitskrisen bald einsatzfähig sein.

Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan plädierte von der Leyen für den Ausbau der Europäischen Verteidigungsunion. Angesichts wachsender internationaler Rivalitäten will die Kommissionspräsidentin die EU auch wirtschaftlich widerstandsfähiger machen. Konkret kündigte von der Leyen unter anderem an, die Herstellung von Hochleistungschips in Europa zu stärken, um die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten zu beseitigen.

Von der Leyen mit Rede zur Lage der EU

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte in ihrer Rede zur Lage der EU einen Verteidigungsgipfel als Folge der Katastrophe in Afghanistan an.

Neues Instrument soll angewendet werden

Aufhorchen ließ von der Leyen mit einer Ankündigung zu Polen und Ungarn, jenen Mitgliedsstaaten, die seit Jahren im Streit mit der EU wegen Rechtsstaatsverstößen liegen. Laut von der Leyen will die Kommission schon in Kürze die ersten Verfahren auf den Weg bringen, die zu einer Kürzung der EU-Mittel führen könnten. „Ich kann Ihnen ankündigen, dass in den kommenden Wochen die ersten schriftlichen Mitteilungen verschickt werden“, sagte von der Leyen in Straßburg.

Stein des Anstoßes

Die fortgesetzte Tätigkeit der polnischen Disziplinarkammer zur Bestrafung von Richtern ist Ursache des Justizstreits mit Brüssel. Der EuGH hatte in einer einstweiligen Anordnung den Stopp der Kammer verfügt, sie tagt dennoch weiter.

„Das Recht auf eine unabhängige Justiz, das Recht, vor dem Gesetz gleich behandelt zu werden – auf diese Rechte müssen sich die Menschen verlassen können, und zwar überall in Europa.“ Es sei wichtig, dass zu Beginn immer der Dialog stehe. Doch der Dialog sei kein Selbstzweck, sondern müsse zum Ziel führen.

Von der Leyen bezog sich am Mittwoch auf das neue Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Dieses sieht vor, dass Mitgliedsstaaten Mittel aus dem Gemeinschaftsbudget gekürzt werden können, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch der Gelder droht. Das EU-Parlament hatte Brüssel zuletzt Untätigkeit vorgeworfen und noch im Juni die EU-Kommission unter Androhung einer Untätigkeitsklage aufgefordert, endlich das Verfahren zu nutzen.

Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen.
APA/AFP/Yves Herman
Ursula von der Leyen hielt am Mittwoch in Straßburg ihre zweite Rede zur Lage der Union

Frist bis Anfang November

Die Frist für die Klage ist der 2. November. Sollte die Kommission bis dahin nicht tätig werden, wollen EU-Parlamentsabgeordnete klagen. „Wir werden nicht locker lassen“, so der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), nach von der Leyens Rede. Die Kommission habe schon deutlich reagiert, in Wortwahl und Handlungen.

So habe die EU-Behörde keine Gelder aus dem CoV-Aufbaufonds der EU für Polen und Ungarn freigegeben und gegen Warschau zusätzlich finanzielle Sanktionen vor dem Europäischen Gerichtshof beantragt. Sowohl die EU-Kommission als auch das Europäische Parlament würden die neuen Instrumente zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit „offensiver als je zuvor nützen, um nicht zur Tagesordnung überzugehen“.

Dass die Konfrontation zwischen Warschau und Brüssel eskalieren könnte, eventuell gar bis zu einem Austritt Polens aus der EU, glaubte Karas am Mittwoch nicht. Der absolute Großteil der Menschen in Polen wollte Teil der Union seien, das stimme ihn optimistisch, so Karas zu ORF.at. Einer jüngsten Umfragen zufolge wollen rund 88 Prozent der Polen in der EU bleiben, nur gut sieben Prozent finden, ihr Land solle die Gemeinschaft verlassen.

„Polexit eine Propagandaerfindung“

Mehrere polnische Abgeordnete der nationalkonservativen Regierungspartei PiS hatten zuletzt jedoch auf einen möglichen Austritt Polens angespielt, mit Blick auf das Beispiel Großbritanniens „drastische Schritte“ angekündigt und vom Kampf gegen „Brüsseler Besatzer“ gesprochen. Am Mittwoch betonte PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski aber, Polen strebe keinen Austritt an. „Es wird keinen Polexit geben. Das ist eine Propagandaerfindung, die schon vielfach gegen uns vorgebracht wurde“, sagte Kaczynski der Nachrichtenagentur PAP. Seine Partei sehe die Zukunft Polens eindeutig in der EU.

Analyse der Rede zur Lage der EU

ORF-Korrespondent Roland Adrowitzer meldet sich aus Straßburg und spricht über das Ziel, die EU militärisch stärker zu machen. Zudem zieht er eine kurze Bilanz nach zwei Jahren Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Union.

Zugleich hält Warschau aber an seiner Politik fest. Die Disziplinarkammer in der Justiz arbeitet entgegen anderslautenden Beteuerungen weiter. Und das kritisierte Mediengesetz will die PiS-Regierung auch nach der Ablehnung durch den Senat noch durchsetzen. Das Votum des Senats solle überstimmt werden, kündigte Kaczynski an – voraussichtlich vor Ende September. Gegner des Gesetzes sehen darin einen Versuch, gezielt gegen den regierungskritischen Sender TVN24 vorzugehen.