Mahnwache im Dorf Lützerath in Nordrhein-Westfalen
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Deutschland-Wahl

Klimakampf im Geisterdorf

Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden – bis spätestens 2038 soll der Kohleausstieg geschafft sein. Für viele ist das zu spät, wie Debatten im Vorfeld der Bundestagswahl zeigen. Besonders laute Rufe nach einem früheren Ausstieg kommen aus sterbenden Dörfern im von Unionskanzlerkandidat Armin Laschet regierten Braunkohleland Nordrhein-Westfalen. Denn die Kohle, die sich unter den Orten befindet, schwebt seit Jahrzehnten wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Bewohnerinnen und Bewohner.

Auf den ersten Blick scheint der kleine, landwirtschaftlich geprägte Ort Lützerath unscheinbar – ein Backsteinhaus reiht sich an das nächste. Doch vor manchen Hausmauern finden sich Absperrungen, andere werden von Plakaten geziert. „Lützerath Lebt“ steht da. „Den Kohleausstieg nicht auf die lange Bank schieben“ heißt es auf einem Täfelchen, das an einer Holzbank befestigt wurde, auch. Und in den Baumkronen finden sich Baumhäuser, auf einer großen Wiese wurden Zelte aufgeschlagen. Seit Monaten regt sich hier der Widerstand gegen den Abriss der wenigen verbleibenden Häuser und Höfe des fast leerstehenden nordrhein-westfälischen Dorfes.

Abgerissen werden soll der Ort wegen der im Boden befindlichen Braunkohle, die der Energiekonzern RWE im direkt vor der Tür befindlichen Tagebau Garzweiler II abbauen möchte. Ein ähnliches Schicksal droht fünf weiteren Nachbardörfern. Dass Deutschland in spätestens 17 Jahren aus der Kohle aussteigen will, änderte daran bisher nichts. Manche Ortschaften in der Region gibt es auch gar nicht mehr, sie wurden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für die Kohle dem Erdboden gleichgemacht. Zehntausende Menschen mussten wegen der Kohle deutschlandweit bereits ihre Heimat zurücklassen.

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Holzhäuser von Demonstranten in Lützerath
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Aktivistinnen und Aktivisten aus dem ganzen Land sind im vergangenen Jahr nach Lützerath gekommen, um den Ort gegen den Energieriesen RWE zu verteidigen
Bunt bemalte alte Busstation in Lützerath
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Die Aktivisten haben ihre Spuren hinterlassen – so wurde etwa eine ehemalige Busstation umgestaltet, um auf die Kohleproblematik hinzuweisen
Zeltcamp von Demonstranten in Lützerath
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Geschlafen wird in Zelten und Baumhäusern auf dem Grund von Landwirt Eckhardt Heukamp
Straßenschild von Lützerath
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Wenn Deutschland die 1,5-Grad-Grenze gemäß dem Pariser Klimaschutzabkommen einhalten möchte, dann wäre vor Lützerath Stopp mit dem Tagebau, heißt es in einer Studie
Baumhaus in Keyenberg
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Auch im Wald, der direkt neben dem ebenfalls bedrohten Ort Keyenberg – ein Nachbarort Lützeraths – liegt, haben sich Aktivistinnen und Aktivisten niedergelassen – und zwar in Baumhäusern

Landwirt stellt sich gegen Energieriesen

Einer, der sich gegen die Umsiedelung stellt, ist der Lützerather Landwirt Eckhardt Heukamp. Heukamp, der schon einmal wegen der Erweiterung des Tagebaus sein Zuhause im nun abgebaggerten Borschemich zurücklassen musste, kämpft aktuell juristisch gegen die Enteignung durch RWE an. „Am 1. November soll ich hier weg, das ist deren Ansicht, die Ansicht der RWE“, sagt er. Von Medien wurde er immer wieder als „letzter Bewohner Lützeraths“ bezeichnet, dabei ist er das nicht mehr.

Tagebau Garzweiler

Dabei handelt es sich um einen von drei Braunkohletagebauen des Rheinischen Reviers. Der Betrieb in Garzweiler soll spätestens 2038 eingestellt werden.

Seit rund einem Jahr zieht es Aktivistinnen und Aktivisten in Heukamps Ort. Sie leben in den leerstehenden Häusern, in Zelten und auch in Baumhäusern. Manche von ihnen haben hier ihren Hauptwohnsitz gemeldet, berichten sie. Insgesamt elf Einwohner zählte Lützerath Ende August – 67 waren es zu Beginn der Umsiedelungen im Jahr 2006. Der Grund für den jüngsten Zuzug? Mit Oktober beginnt die Rodungssaison. Vermutet wird, dass RWE dann Bäume fällen und weitere Häuser abreißen könnte.

Landwirt kämpft gegen Energieriesen RWE

Neuer Symbolort für Protest gegen Kohle

Für November wird die Räumung des Ortes erwartet. Mehrere Anfragen von ORF.at ließ RWE bisher unbeantwortet. Dass es bei der Räumung zu Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und Polizei – ähnlich wie 2018 bei der Räumung des Hambacher Forst – kommen könnte, wird in Lützerath nicht ausgeschlossen. Die Dörfer am Rande des Tagebau Garzweiler II haben den Hambacher Forst, dessen Räumung 2018 laut einem jüngsten Urteil rechtswidrig war und der letztlich erhalten blieb, als Symbolort für den Protest gegen die Kohleverstromung abgelöst.

So sieht das auch die Umweltaktivistin Carola Rackete, die es zuletzt nach Lützerath verschlagen hat. Sie hofft, dass das was von Lützerath noch übrig ist, gerettet wird: „Ich glaube, dass wir – ähnlich wie wir den Hambacher Forst gerettet haben, indem einfach viele, viele Leute vor Ort waren und den Wald damals besetzt haben, dass wir das hier nur auf die gleiche Weise schaffen können.“ Darin sieht sie „die größte Chance für den Kohleausstieg“. Von der Wahl und den Plänen der Regierungsparteien erwarten Rackete wie auch Heukamp nicht viel.

Braunkohletagebau Garzweiler und umliegende Dörfer

Die Pläne für den Kohleausstieg

Mit Ausnahme der AfD setzen alle Parteien auf das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens, der Kohleausstieg ist da wesentlich. Konkret wollen sowohl Armin Laschet, der Unionskandidat und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, wie auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am Ausstieg bis spätestens 2038 festhalten. Fachleute bezweifeln, dass die Pariser Klimaziele damit eingehalten werden können. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock pocht auf einen Ausstieg bis 2030.

Der Kohleausstieg in Deutschland ist auch deshalb heikel, weil daran Tausende Jobs hängen. Für die Kohleländer Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg macht der Bund daher 40 Milliarden Euro an Strukturhilfe locker – an NRW gehen davon fast 15 Milliarden Euro.

Abgesehen vom Kohleausstieg wollen die Parteien erneuerbare Energien ausbauen, was derzeit noch viel zu langsam vorangeht. Im dicht besiedelten NRW habe das auch mit einer durch Laschets CDU/FDP-Landesregierung eingeführten Regel, wonach Windräder nun 1.000 Meter Abstand zu Wohnhäusern haben müssen, zu tun, sagen Kritiker. Die Abhängigkeit vom Kohlestrom bleibt weiter groß – und das auch trotz der stets steigenden Preise von CO2-Zertifikaten, die den Betrieb von Kohlekraftwerken unwirtschaftlich gestalten sollen.

Gesetz sichert RWE-Anspruch auf Kohle

Der Tagebau Garzweiler ist für RWE damit jedenfalls weiterhin von großer Bedeutung – nicht zuletzt deshalb, weil die beiden anderen Rheinischen Tagebaue Hambach und Inden schon bis 2030 stillgelegt werden sollen. Der Tagebau Garzweiler soll hingegen weiterlaufen und bis spätestens 2038 stillgelegt werden. Parallel dazu investiert RWE, dessen Konzernführung eine schnellere Energiewende anstrebt, weiter in den Ausbau von erneuerbarer Energie.

Kohle-Abbau-Maschinen im Tagebaubetrieb Garzweiler in Nordrhein-Westfalen
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Geht es nach RWE, dann sollen im Tagebau Garzweiler noch Hunderte Millionen Tonnen Kohle abgebaut werden

Auch gesetzlich ist der Bestand des Tagebau Garzweiler II in seinen ursprünglich beantragten Grenzen gesichert, und zwar im Kohleausstiegsgesetz von 2020, das auf den Empfehlungen der 2018 eingesetzten Kohlekommission basiert. Darin wird der Tagebau als „energiepolitisch und energiewirtschaftlich“ notwendig bezeichnet, doch jene Notwendigkeit sei auf Bundesebene gar nicht überprüft worden, kritisieren die Dorfbewohner mit Verweis auf ein vom Juristen Thomas Schomerus erstelltes Gutachten.

Ärger über brisantes Gutachten

Für Unmut sorgte noch ein weiteres Gutachten, das vom Wirtschaftsministerium lange Zeit unter Verschluss gehalten wurde: Nach dem darin skizzierten Szenario müssten die Dörfer nämlich nicht zwingend umgesiedelt werden, um den Braunkohlebedarf RWEs decken zu können. In einem noch früheren Entwurf des Gutachtens hieß es gar, die Dörfer könnten selbst dann zerstört werden, wenn die darunter befindliche Kohle gar nicht gebraucht wird.

Aktivistin Brüne über Kohle, Klimaziele und Lützerath

Bedeutend sind die Gutachten für die „Dörfler“, weil Enteignungen – etwa jene, die Heukamp momentan bekämpft – in Deutschland nur dann zulässig sind, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen. Das heißt in dem Fall, dass die Kohle unter den betroffenen Häusern und Höfen dringend gebraucht wird, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnete in einer Studie überdies, wie viel Kohle im Tagebau Garzweiler unter Einhaltung der internationalen Klimaschutzziele noch abgebaut werden dürfe – und demnach müsste bald Schluss sein.

Die Dörfer um den Tagebau sind dennoch weiter in Gefahr: Kaum Klarheit schuf laut Bewohnern auch eine Leitentscheidung der von Laschet geführten Landesregierung vom Frühling. Darin wurde eine endgültige Entscheidung darüber, ob die fünf zur Stadt Erkelenz gehörenden Dörfer Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath bis 2028 vollständig abgebaggert werden müssen, de facto auf 2026 vertagt. In jenem Jahr will Berlin zudem die Folgen des Kohleausstiegs auf die Versorgungssicherheit und die Entwicklung der Strompreise überprüfen. Untersucht werden soll dann auch, ob der Kohleausstieg bis 2035 erfolgen kann.

Gelbe Kreuze an einem Gebäude in Keyenberg in Nordrhein-Westfalen
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Im bedrohten Dorf Keyenberg sind überall gelbe Kreuze zu sehen – sie sind das Symbol der Braunkohlegegner

„Die Leute hängen in der Luft“

„Die Leute hängen in der Luft, die wissen gar nicht was sie machen sollen. Sollen sie jetzt verkaufen oder bleibt der Ort dann doch stehen?“, ärgert sich Alexandra Brüne von der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ über die Entscheidung. Brünes Familie ist schon seit Langem im Kampf gegen die Kohlebranche aktiv – auch ihr Elternhaus unweit des inzwischen geretteten Ortes Holzweiler war ob der darunterliegenden Kohle bedroht.

TV-Hinweis

Das „Weltjournal“ widmet sich am Mittwoch um 22.30 Uhr in ORF2 dem Thema „Deutschland – Generation Merkel“ – mehr dazu in tv.ORF.at.

„Die (Menschen, Anm.) müssen sich ja auch eine Alternative schaffen: Gehen sie mit an den neuen Ort, dann brauchen sie Bauland. Wenn sie nicht mitgehen, dann müssen sie etwas anderes finden, was dem entgegenkommt“, sagt die Sozialpädagogin. Tatsächlich sind für die bedrohten Orte nur wenige Kilometer entfernt längst neue Dörfer mit identen Ortsnamen am Entstehen: Keyenberg (neu) etwa, oder auch Immerath (neu). Aus den betroffenen Orten sind bereits viele – aber freilich nicht alle – Menschen dorthin übersiedelt.

Während in Immerath, das 2006 noch 851 zählte, aktuellsten Daten zufolge noch 23 Personen leben, sind es in Immerath (neu) inzwischen 833. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Keyenberg: Der Ort hatte zu Beginn der Umsiedlungen 2016 noch 840 Einwohner, nun sind es 227. In Keyenberg (neu) leben aktuell 310 Menschen. Anders als im Fall von Immerath, hat die Zerstörung von Keyenberg noch nicht begonnen.

Überblick auf den Tagebau Hambach
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Viele Kohlegegner sehen Armin Laschet als „Kohlejunkie“ – der CDU-Politiker setzte sich dagegen zur Wehr

Kritik an Laschets Verhältnis zur Kohlebranche

Die aktuelle Landesregierung stehe „nicht hinter den Menschen hier in den Dörfern, die stehen hinter RWE“, kritisiert der 24-jährige Waldemar Kiener. Kiener, der eigentlich in Baden-Württemberg aufgewachsen war, engagiert sich seit 2021 ebenso bei der Intitiative „Alle Dörfer bleiben“. „Armin Laschet ist total mit RWE verstrickt“, prangert der Busfahrer auch an – ein Vorwurf, den sich Laschet immer wieder von Kohlegegnern gefallen lassen muss.

2018 besuchte Laschet die Gegend – da habe er sich als „Dorfretter aufgespielt“, schildert Kiener. Dennoch würden seither immer wieder Fakten geschaffen. Auch Brüne erinnert sich an den Besuch – Laschet habe damals sehr betroffen gewirkt, geschehen sei aber dennoch nichts. Laschet selbst wehrte sich bereits gegen die Kritik und kritisierte seinerseits die Beschlüsse der früheren SPD/Grünen-Landesregierung in NRW.

Fotostrecke mit 8 Bildern

Verlassenes Haus in Immerath
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In Immerath stehen kaum noch Häuser – der Ort wird seit 2018 abgebaggert
Vernagelte Fenster und Türen in Immerath
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Die Fenster der verbliebenen Häuser wurden teils zugenagelt, damit sie nicht von Diebesbanden geplündert werden
Waldemar Kiener deutet auf den alten Standort seines abgerissenen Hofs in Immerath
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Der Hof der Familie von Waldemar Kiener wurde bereits abgerissen. Kiener deutet auf dessen alten Standort.
Gebäude vor dem Abriss in Immerath
Waldemar Kiener
Der Hof der Familie Kiener – im Bild zu sehen – wurde vor einigen Jahren abgerissen
Absperrung und Warnschilder in Immerath
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Da, wo früher Häuser und Höfe standen, ist heute nichts mehr. Betreten darf das abgebaggerte Gebiet jedenfalls nicht werden.
Absperrung vor dem Tagebaubetrieb Garzweiler in Immerath
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Da, wo einst Menschen lebten, wird heute nach Kohle gegraben
Gefällte Baumstämme des alten Friedhofs in Immerath
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Gefällte Baumstämme des alten Friedhofs – auch Müll wird hier abgeladen
Stadtansicht von Immerath (neu)
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Nur wenige Kilometer entfernt entstand der Ort Immerath (neu), viele sind hierher übersiedelt

Seine Familie, die im beinahe zur Gänze zerstörten Ort Immerath einen jahrhundertealten Hof besaß, würde seit jeher unter dem Tagebau leiden, schildert Kiener auch. Nur noch wenige Häuser stehen hier, bis auf zwei sind alle unbewohnt – die Fenster abgedeckt, die Mauern vergrünt. Die Bagger sind überall sichtbar. Losgelassen hat ihn der Ort nie, auch nicht, als vor über zehn Jahren dessen Zerstörung einsetzte.

Zweite Chance für sterbende Dörfer?

Das Dorfsterben begann freilich schon Jahrzehnte früher. Nach Immerath, das es fast nicht mehr gibt, kehren viele dennoch immer wieder zurück, „weil sie nicht damit klarkommen, dass ihr Zuhause weg ist“, sagt Kiener. „Man denkt sich, dass man sich irgendwann an diese Zerstörung gewöhnen muss, aber daran gewöhnt man sich nicht“, sagt auch Brüne. „Mich nimmt das jedes Mal wieder mit, auch wenn es nicht mal mein Haus ist, das hier abgerissen wird.“

Waldemar Kiener über Diebesbanden in Immerath

Hoffnung für Keyenberg und Co. hat Brüne dennoch: „Selbst wenn hier jetzt viele Leute weg sind, glaube ich trotzdem, dass man die Orte wieder mit vielen Leuten füllen kann. Das ist das geringste Problem, und das ist auch eine Chance, hier einen Strukturwandel in der Region zu machen.“ Dass die Braunkohle keine Zukunft mehr hat, sind sich Brüne, Kiener und Heukamp einig. Sie alle hoffen, dass die künftige Regierung den Kohleausstieg vorzieht und die Dörfer rettet.