Gut zwei Monate ist die Hochwasserkatastrophe in Deutschland her, in den besonders betroffenen Gebieten ist dennoch kaum Normalität eingekehrt – so auch nicht in Erftstadt in Nordrhein-Westfalen. Die Bilder aus dem Stadtteil Blessem und der hiesigen Kiesgrube, die mehrere Häuser verschluckte, gingen Mitte Juli um die Welt.
Vom Wasser ist Mitte September zwar nichts mehr zu sehen, wohl aber von der Zerstörung: Auf den Straßen liegt Schutt, auf einer Fläche unweit des Marien-Hospitals stapelt sich Sperrmüll, und in den Häusern wie auch auf der gesperrten Autobahn laufen die Reparaturen auf Hochtouren. Die Schadenssumme beträgt rund 115 Millionen Euro, heißt es von der Stadt. Der Wiederaufbau wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.
Blessem vergisst lachenden Laschet nicht
Erftstadt war es auch, dem Unionskanzlerkandidat und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet im Juli im Zuge der Hochwasserkatastrophe einen Besuch abstattete. Bilder von dessen Gelächter brannten sich ins deutsche Gedächtnis ein und setzten eine Abwärtsspirale für den CDU-Politiker in Gang. In den Umfragen konnten sich die CDU und er seither kaum erholen, die SPD ist nach wie vor voran.
„Das haben ihm die Leute hier sehr übel genommen“, sagt der Blessemer Berufsfeuerwehrmann Markus Lappe. Lappes Einfamilienhaus ist seit der Flut unbewohnbar, gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern lebt er nun in einem Wohnwagen – voraussichtlich noch bis Ende Oktober. Für Laschet sei der Besuch „nur Publicity für die Wahl“ gewesen, sagt Lappe auch. „Letztendlich denke ich, es war ihm egal, das war so ein Termin, da muss ich hin, aber bringen tut es rein gar nichts.“
Betroffener über die Flut und ihre Folgen
Der Berufsfeuerwehrmann Markus Lappe spricht über das Hochwasser im Juli und darüber, was seither falsch gelaufen ist.
Auch Gaby von Knobelsdorff, die ihre in Blessem lebende Mutter wegen der Flut zu sich holte, äußerte sich enttäuscht: Bis zu seinem Besuch sei Laschet für sie „der verheißungsvollste Kandidat“ bei der bevorstehenden Bundestagswahl gewesen. Ihre Meinung zum Ministerpräsidenten haben Mutter und Tochter seither geändert. „Wie der Kasper da lacht – das war ein Schlag ins Gesicht für alle Leute, die betroffen waren“, sagt von Knobelsdorff.

Schicksalshafter Bildschnipsel?
Bürgermeisterin Carolin Weitzel (CDU) führte Laschet wie auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an jenem Tag durch die Stadt. „Herr Laschet hat sich entschuldigt, und damit sollte man es auch bewenden lassen“, sagt sie. Die Flut hat auch bei ihr nach wie vor oberste Priorität – die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Landesministerien in Düsseldorf funktioniere gut.
Für die Wut der Menschen hat Weitzel Verständnis – ebenso der CDU-Abgeordnete Rudolf Henke im 55 Kilometer entfernten Aachen. Aber: „Muss das immer wieder hochgeholt werden?“, ärgert sich Henke. Laschet habe sich mehrere Male für den Lacher entschuldigt. „Am Ende führt so was dazu, dass ein Bildschnipsel von zehn Sekunden Dauer über das Schicksal eines Volkes für 20 Jahre entscheidet, das kann ja nicht sein. Soll ihn diese Szene bis zu seinem Lebensende begleiten?“

Henke kandidiert bereits zum dritten Mal für den Wahlkreis Aachen I, dass er auch heuer antritt, überraschte nicht wenige. Immerhin handelt es sich dabei um jenen Wahlkreis, in dem auch Laschet hätte kandidieren können. Doch der hatte sich dagegen entschieden und ein Antreten über den ersten Listenplatz der Landesliste avisiert. Nicht ganz ohne Grund: Immerhin ist der Wahlkreis der CDU alles andere als sicher. Erst im Vorjahr hatte Aachen mit Sibylle Keupen eine Grüne zur Oberbürgermeisterin gewählt.
„Karnevalsprinz“ zwischen Putin und Macron?
Doch was sagen die „Öcher“ über ihren Ministerpräsidenten, den Bewunderer des in Aachen omnipräsenten Karl dem Großen, mit dem die Laschets eigenen Recherchen zufolge gar verwandt sein könnten? Er habe „viel Lobbyarbeit für die RWE (Energiekonzern, Anm.)“ gemacht und in Sachen „Windkraft“ blockiert, meint etwa der 21-jährige Student Silas. Auch die 19-jährige Studentin Johanna hätte sich beim Klimaschutz mehr gewünscht. Die beiden spielen auf die Kohlepolitik der CDU-FDP-Koalition in NRW an, für die Laschets Regierung immer wieder in der Kritik stand.
„Herr Laschet, der wohnt ja hier in der Nähe in Burtscheid (Stadtteil, Anm.), ich finde den sehr farblos“, sagt der 68-jährige Hans-Peter, der sich als SPD-Wähler zu erkennen gibt. Einer anderen Burtscheiderin ist er zu bunt: Sie könne sich den „Karnevalsprinzen“ – Laschet erhielt im Vorjahr den „Orden wider den tierischen Ernst“ – nicht zwischen Schwergewichten wie Wladimir Putin und Emmanuel Macron vorstellen. Freilich trifft der Nordrhein-Westfale in seiner Heimat auch auf Zustimmung: „Ich glaube, er würde seine Sache sehr gut machen. Er ist sachlich, er ist problemorientiert“, sagt der 69-jährige Savvidis – auch Angela Merkel habe man zu Beginn unterschätzt.
So sieht NRW die Kanzlerkandidaten und -kandidatin
Ex-Kollege: Notenskandal war „hochnotpeinlich“
„Als Landesvater hat er eine gute Figur gemacht, zu NRW passt das Umgängliche und Unkomplizierte. Hätte er da keine positive Führungserfahrung gemacht, wären seine Zustimmungswerte noch schlechter“, meint der Politikwissenschaftler Emanuel Richter. Es sei nur eben ein Unterschied, ob man „einem Bundesland als Ministerpräsident vorsteht oder ob man als Kanzlerkandidat gehandelt wird“. Als „typisch rheinisches Gewächs“, dem oft das Karnevaleske vorgehalten werde, fehle dem CDU-Politiker teils die nötige „Ernsthaftigkeit, Geradlinigkeit und Planung“, so Richter.
Laschet ist dem Politologen kein Fremder, beide haben an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH Aachen) gelehrt. Laschets Lehrtätigkeit an der RWTH nahm kein gutes Ende: 2015 wurde nämlich bekannt, dass er als Lehrbeauftragter Noten aus Aufzeichnungen rekonstruierte, nachdem er die korrigierten Arbeiten verschlampt hatte. Laschet gab die Funktion daraufhin auf. Im Juni sorgte die Causa nochmals für Aufsehen, weil Medien berichteten, dass er die Lehrtätigkeit in seinem Lebenslauf gar nicht mehr erwähnte. „Hochnotpeinlich“, erinnert sich Richter, der Laschet aber auch als „umgänglichen Menschen“ erlebt hatte, daran.
Rote Hochburgen
Dass der CDU-Politiker es im eigenen Bundesland nicht leicht haben dürfte, hängt aber auch damit zusammen, dass Nordrhein-Westfalen lange Zeit eine SPD-Hochburg war: Selbst der Sieg von Laschet und seiner CDU bei der Landtagswahl 2017 gegen die SPD und Spitzenkandidatin Hannelore Kraft, die von 2010 bis 2017 regierte, war knapp. Gerade in den vielen Großstädten des Landes ist die SPD nämlich immer noch dominant, wenn sie auch mit Wählerverlusten an die Grünen zu kämpfen hat (Stichwort: Kommunalwahlen 2020).
Nach wie vor als SPD-Festung gilt Dortmund, das in Anlehnung an das Zitat von SPD-Politiker Herbert Wehner gerne als „Herzkammer der Sozialdemokratie“ bezeichnet wird. Seit 1946 wird die einst von Kohle, Bier und Stahl geprägte Stadt von der SPD geführt. Dafür, dass die Partei sich nun auch auf Bundesebene wieder gut schlägt, hat man hier Antworten.

„Viele handwerkliche Fehler“
„Politik ist Organisation“, zitiert der im Herbst 2020 gewählte Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) den ehemaligen SPD-Vizekanzler Franz Müntefering. Die SPD habe das in der Zeit nach Ende der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Gerhard Schröder 2005 vergessen – und „viele handwerkliche Fehler“ gemacht. Jene Fehler würden mit der Union und den Grünen nun anderen unterlaufen.
„Die tauchen bei uns in dem Jahr nicht auf, und das hat damit zu tun, dass diejenigen, die das verantworten – Olaf Scholz vorneweg –, verstanden haben, dass man seine politischen Botschaften überzeugend haben und systematisch aufbauen muss und dass man dafür sorgen muss, dass sie gehört werden“, so Westphal.
Anders als Annalena Baerbock und Laschet, die im Frühjahr als Kanzlerkandidatin und -kandidat nominiert worden waren, legte sich die SPD auf Scholz mit Sommer 2020 schon sehr früh fest. „Wir fühlen uns jetzt auch sehr wohl mit der Bundes-SPD: wenn Sie mich vor zwei, drei Jahren gefragt hätten, wäre das nicht so gewesen.“
Zwischen Westphal und Laschet hatte es im Frühjahr pandemiebedingt noch Verstimmungen gegeben: Westphal hatte damals angesichts steigender Infektionszahlen bei Jungen Schulschließungen gefordert, einen diesbezüglichen Antrag lehnte die Landesregierung in Düsseldorf ab. Dem Krisenmanagement der Landesregierung stellt der SPD-Politiker kein positives Zeugnis aus. Mit der Meinung sei er auch nicht allein: Dass die Landesregierung die Pandemie „von Anfang an nicht richtig gemanagt hat“, sei in der gesamten kommunalen Familie Thema.
„Das Spiel hat 90 Minuten“
In der Union ist die Hoffnung, dass der in seiner Vergangenheit schon mehrfach unterschätzte Laschet mit seiner Partei bis zum Wahlabend noch Meter gutmachen kann, trotz allem groß. Auch der Aachener CDU-Politiker Henke bleibt nach außen hin zuversichtlich: „Wir sind jetzt zehn Minuten vor Spielende, das Spiel hat 90 Minuten, und dann steht das Ergebnis fest.“ Henke hofft, dass sich die Wählerinnen und Wähler von einer potenziellen, wenn auch unwahrscheinlichen „Rot-Rot-Grün“-Koalition abgeneigt zeigen – und statt bei der SPD doch bei CDU/CSU das Kreuz machen.
Doch ob es für einen Unionstriumph reicht? „Wir sind optimistisch, dass das am Ende nicht in eine Zeit einer Linksregierung reinläuft, sondern dass es dazu Alternativen gibt.“ So viel scheint klar: Eine Rückkehr Laschets nach Düsseldorf wird es nicht mehr geben. Darauf hat sich der Aachener in einem „FAZ“-Interview im Mai festgelegt. Sein Platz sei künftig in Berlin – auch im Falle einer Niederlage.