Stahlwerk der voestalpine in Linz
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Oberösterreich

Zukunftssuche im ‚Hoamatland‘ der Industrie

Oberösterreichs Industrie gilt als ein Aushängeschild des Bundeslandes. Die produzierende Wirtschaft bietet Arbeitsplätze und trägt maßgeblich zur regionalen Wertschöpfung bei. Zugleich stehen große Veränderungen an. In Anbetracht der Klimakrise muss auch die Industrie in den kommenden Jahren Wege finden, ihre Emissionen radikal einzuschränken – keine leichte Aufgabe, aber laut Experten eine lohnende.

Wahlkampf ist traditionell die Zeit, in der die politischen Bewerber ihre Unterschiede hervorstreichen. Das ist bei einer Landtagswahl nicht anders als bei einem bundesweiten Urnengang. In Oberösterreich sind sich die Parteien aber auch im Wahlkampf in einem weitgehend einig: Am Wirtschaftsstandort will niemand rütteln. Seinen Status als „Industriebundesland Nummer eins“ soll Oberösterreich auch in Zukunft behalten. Sinngemäß findet sich das in den Wahlprogrammen aller Parteien.

Die Industrie in Oberösterreich ist für rund 40 Prozent der Wertschöpfung in dem Bundesland verantwortlich. Mehr als ein Viertel aller Menschen, die in Österreich im Industriesektor tätig sind, arbeiten in Oberösterreich. Zugleich stammt rund ein Viertel aller Waren, die aus Österreich exportiert werden, aus dem Bundesland ob der Enns.

Großer Energiehunger

Diese starke Rolle der Industrie macht sich nicht zuletzt auch in den Statistiken zum Energieverbrauch deutlich. Fast 96 Terawattstunden an Energie verbrauchte Oberösterreich laut Statistik Austria im Jahr 2019. Heruntergebrochen auf die rund 1,5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner des Landes ergibt das einen Pro-Kopf-Verbrauch von rund 64.000 Kilowattstunden. Das ist fast ein Drittel höher als der österreichische Durchschnitt. Die „grundstofforientierte“ Industrie hat einen großen Energiehunger.

Noch wird der überwiegende Teil dieser Energie aus fossilen Rohstoffen gewonnen. Aus Erdgas, Erdöl und – in Oberösterreich wichtiger als in den anderen Bundesländern – Kohle. Denn ohne Koks blieben die Hochöfen der voestalpine kalt. Der fossile Brennstoff sorgt nicht nur für die hohen Temperaturen, sondern erfüllt noch eine weitere Funktion. Um aus Eisenerz Stahl zu machen, muss dem Rohstoff der Sauerstoff entzogen werden. Das erledigt bisher ebenfalls der Koks. Der dicke Pferdefuß dabei: Bei dem Prozess entsteht sehr viel CO2.

Ein ähnliches Problem hat auch die Zementindustrie. In einem Zementofen werden Kalkstein, Sand und Ton bei mehr als 1.400 Grad gebrannt. Aus Kalkstein wird dabei Calciumoxid. Zugleich werden große Mengen Kohlendioxid freigesetzt. Pro Tonne Zement sind es rund 600 Kilogramm CO2.

Schwer vermeidbare Emissionen

„Es gibt Industrien, die nicht nur wegen der Energiegewinnung CO2 ausstoßen, sondern wegen der dort ablaufenden chemischen Prozesse selbst“, sagt Stefan Schleicher im Gespräch mit ORF.at. Er ist Volkswirt und Professor am Wegener Zentrum für Klima und Globalen Wandel an der Uni Graz. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Fragen der Klima- und Energiepolitik.

Im Hinblick auf Stahl- oder die Zementindustrie spricht Schleicher deshalb von „Hard-to-abate-Industries“ – also Industriezweigen, bei denen es besonders schwerfällt, Treibhausgase zu vermeiden. Dazu gehört auch die Chemieindustrie, die bisher für ihre Produkte zu großen Teilen auf fossile Rohstoffe angewiesen ist. Und auch für Betriebe, die einfach sehr große Energiemengen benötigen, ist der Umstieg in eine klimaneutrale Zukunft eine besondere Herausforderung. Von allen diesen Industriezweigen sind in Oberösterreich besonders viele angesiedelt.

„Alles tun, um Verdrängung zu verhindern“

Bis zu einem gewissen Grad gilt das für ganz Österreich. Verglichen mit der EU trägt die Schwerindustrie bei uns überdurchschnittlich stark zu den Emissionen bei. Der Anteil der Stahl- und Zementindustrie am österreichweiten Treibhausgasausstoß ist etwa doppelt so hoch wie im EU-Schnitt. Dabei seien die Industriezweige hierzulande „technologisch sehr fortgeschritten“, sagt Schleicher. Für den Ökonomen ist es deshalb auch keine Lösung, die Produktion einfach auszulagern. Vielmehr müssten sowohl „die EU insgesamt als auch insbesondere Österreich alles unternehmen, um zu verhindern, dass diese Industrien verdrängt werden“.

Das voestalpine-Werk in Linz
APA/Helmut Fohringer
Nicht nur die voestalpine sucht nach Wegen, ihre Emissionen drastisch zurückzufahren

Dass das kein Spaziergang wird, bestreitet auch Schleicher nicht. „Dafür ist sehr viel zu tun: Sowohl von den Unternehmen selbst als auch von der Politik.“ Der Ökonom bescheinigt der Industrie inzwischen auch ein tatsächliches Interesse an Veränderung. So sei zum Beispiel die voestalpine rund um die Wasserstoffforschung „wirklich vorgeprescht“, sagt Schleicher.

Alternative zu Koks

Wasserstoff gilt vielen Industriezweigen als der Hoffnungsträger schlechthin. Wird er mit Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellt, wäre er geradezu ein idealer klimaneutraler Energieträger. Und damit die Lösung für alle Prozesse, bei denen hohe Temperaturen und viel Energie nötig sind. In der Stahlproduktion könnte er überdies Koks auch als Reduktionsmittel ersetzen.

Noch ist das allerdings Zukunftsmusik. Allein für das derzeitige Produktionsvolumen der voestalpine müsste für den dafür notwendigen Wasserstoff die Hälfte der derzeit in Österreich erzeugten elektrischen Energie verwendet werden. „Das ist eine Perspektive, die mehr als Stirnrunzeln auslöst“, sagt Schleicher. Man müsse sich also auch die Frage stellen, ob Wasserstoff importiert werden solle, und falls ja, von wo.

Solche Fragen stellen sich nicht nur für den Linzer Stahlkonzern. „Das betrifft die gesamte Stahlproduktion weltweit“, sagt der Ökonom. Er verweist auf Schweden als Vorbild. Dort habe man intensive Forschungsprogramme aufgesetzt und eigene Forschungsinstitutionen eingerichtet. Daran fehle es hierzulande noch, meint Schleicher.

Auffangen des Unvermeidlichen

Tatsächlich versucht gerade Oberösterreich, sich zunehmend als Drehscheibe für solche Innovationsprojekte zu etablieren. Erst Mitte September verkündete die Landesregierung per Aussendung: In Linz solle – gefördert auch vom Bund – eine Pilotanlage zur Erforschung von klimaneutralen Industrieprozessen entstehen. Unter dem Titel Hydrogen and Carbon Management Austria (HCMA) wollen Unternehmen gemeinsam mit der Wissenschaft den Einsatz von Wasserstoff für die Industrie vorantreiben. Zugleich soll sich das Projekt mit der Abscheidung und Wiederverwendung von CO2 beschäftigen.

Wasserstoff-Elektrolyse-Pilotanlagenlage zur CO2-freien Stahlerzeugung der voestalpine
ORF
Die Wasserstoffpilotanlage von voestalpine und Verbund soll auch im HCMA-Projekt eine zentrale Rolle spielen

Die Abscheidung von Kohlendioxid ist – nicht nur hierzulande – ein heiß diskutiertes Thema. Vor allem die Speicherung von CO2 in Lagerstätten unter der Erde gilt vielen als eine reine Verschiebung des Problems und nicht als Lösung. Doch gerade für Branchen wie die Zementindustrie könnte die Abscheidung womöglich die einzige Möglichkeit bieten, klimaneutral zu produzieren. Würde man das CO2 nicht nur abtrennen, sondern als Rohstoff etwa für die Chemieindustrie wiederverwenden, entstünde gar ein „neuer Kohlenstoffkreislauf neben dem natürlichen, wie ihn die Natur vorzeigt“, sagt Schleicher.

Viele offene Fragen

Noch ist aber auch hier vieles offen: Wo wird das CO2 aufbereitet? Sollen die involvierten Industrien alle in einem Cluster lokal gebündelt werden? Oder würde es reichen, wenn zum Beispiel neben einem Zementwerk ein Teil der Aufbereitung stattfindet und der Kohlenstoff dann weitertransportiert wird? Falls ja, in welcher Form soll das geschehen? Und lässt sich tatsächlich das gesamte CO2 wieder in den Kreislauf zurückführen oder muss doch ein Teil unter die Erde gepumpt werden? Die Antworten auf diese Fragen liegen noch in der Zukunft.

Perlmooser Zementwerk
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Bei der Herstellung von Zement fallen große Mengen CO2 an – unabhängig vom verwendeten Brennstoff

Dass „ein gewissen Abscheidung von CO2 notwendig wird“, steht aber auch für Thomas Kienberger außer Zweifel. Der Techniker hat an der Montanuniversität Leoben den Lehrstuhl für Energieverbundtechnik inne. In dieser Rolle ist er auch Teil des Innovationsverbunds NEFI (kurz für New Energy for Industry). Selbsterklärtes Ziel der Kooperationsplattform: „den Weg der produzierenden und energieintensiven Industrie zur Klimaneutralität demonstrieren“.

„Riesenchance“ statt „Bedrohung“

Wenn der Techniker Kienberger den Pfad zu einer klimaneutralen Industrie skizziert, dann deckt sich das über weite Strecken mit den Aussagen des Ökonomen Schleicher. Beide betonen etwa die Wichtigkeit einer Kreislaufwirtschaft, dass also sowohl Produkte als auch Rohstoffe möglichst gut ins System zurückgeführt werden.

Und beide weisen darauf hin, dass es an der Politik liege, den Rahmen zu schaffen, in dem der Umbau der Industrie gelingen kann. „Wir brauchen ordentliche Transformationspfade“, sagt Kienberger. Dazu gehöre auch die Frage, sich genau zu überlegen, wann man was umsetze. „Wenn ich als Unternehmen eine neue Anlage baue, dann steht die“ – mit allem Kapital, das darin gebunden ist. Sei das Unternehmen mit der Investition zu früh dran, bekomme es ein Problem mit dem Wettbewerb. Reagiere es zu spät, dann könne es eine ganze Anlagengeneration verschlafen haben, so der Montanuni-Professor.

Im Idealfall würden die Investitionen durch die Industrie und die Förderung durch die Politik so ineinander greifen, dass Technologien zur richtigen Zeit entwickelt und umgesetzt werden. Das wäre dann eine „Riesenchance“. Als eine solche und „nicht als Bedrohung“ sollte man den Transformationsprozess auch begreifen, sagt Kienberger.

Energieaustausch als großes Ziel

Viele der neuen Technologien wurden laut dem Professor im Labor bereits erprobt. Jetzt müssten sie – etwa die Wasserstofftechnologie oder die CO2-Abescheidung und -Nutzung – schrittweise und begleitet von der Forschung in einen größeren Maßstab überführt werden. „Im Wesentlichen geht es um drei Dinge: den Einsatz erneuerbarer Energie; effiziente neue Prozesse; die Interaktion der Industrie mit den restlichen Energiesystemen.“

Die Fabrik in Lenzing von St. Georgen im Attergau aus betrachtet
ORF.at/Roland Winkler
Bei der Zellstoffproduktion entsteht viel Abwärme an – die im Idealfall wieder genützt wird

Der letzte Punkt ist auch unter dem Stichwort „Sektorkupplung“ bekannt. Diese gilt als ein entscheidender Baustein für die Klimaneutralität. Vereinfacht gesagt steht dahinter das Konzept, Energie in all ihren Formen so effizient wie möglich zwischen unterschiedlichen Bereichen auszutauschen. Die Abwärme eines Unternehmens könnte etwa in ein Fernwärmenetz eingespeist werden. Wird gerade ein Überschuss an Strom produziert, könnte er gleich genutzt werden, um Wasserstoff für die Industrie herzustellen. Und ganz umfassend betrachtet könnte auch die CO2-Abscheidung und -Aufbereitung Teil einer solchen Sektorkopplung sein.

„Experimentieren“ im „Reallabor“

Es stellen sich aber nicht nur technologische Fragen. Erst im Sommer wurde nach langem Hin und Her das Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) beschlossen. Es regelt neben vielen anderen Bereichen auch Anreize für die industrielle Nutzung von erneuerbarem Wasserstoff. „Nun gilt es, die Möglichkeiten, die der Rechtsrahmen hergibt, zu nutzen“, sagt Argjenta Veseli. Die Juristin beschäftigt sich am Energieinstitut an der Johannes Kepler Universität Linz mit eben solchen rechtlichen regulatorischen Fragen rund um erneuerbare Gase, Energiespeicherung und Energienetze.

Das Problem bei Innovationen im Energiebereich sei oft, dass der rechtliche Rahmen auf ein bestehendes Energiesystem ausgelegt sei. „Deshalb stoßen innovative Lösungen, die für die Energiewende essenziell sind, oft auf regulatorische Barrieren“, sagt Veseli. Eine Lösung sieht die Juristin in einer „Reglatory Sandbox“. Das Modell kommt ursprünglich aus dem Finanzbereich. Dahinter verbirgt sich die rechtliche Möglichkeit, Innovationen außerhalb des üblichen Rechtsrahmens auszuprobieren. Veseli spricht vom „Experimentieren“ in einem „Reallabor“.

Blick auf das ganze System

Wichtig sei jedenfalls, „das System als Ganzes zu betrachten und somit alle Potenziale zu berücksichtigen und effizient zu nutzen. Denn Einzellösungen alleine werden uns nicht zur Klimaneutralität bis 2040 führen“, sagt die Juristin. Dieser Satz könnte auch vom Ökonomen Schleicher oder dem Techniker Kienberger stammen.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet, bietet sich Oberösterreich als Entwicklungsfeld tatsächlich doppelt an. Das Bundesland hat eben nicht nur verhältnismäßig viel Industrie. Die verschiedenen Betriebe sitzen mit der Konzentration auf den oberösterreichischen Zentralraum auch noch recht eng beieinander.

Überdies sorgt die geografische und geologische Lage des Landes dafür, dass sich Energie zum einen in Speicherkraftwerken zwischenspeichern lässt. Zum anderen gibt es in den leergepumpten Gasfeldern unter dem Bundesland genug Möglichkeiten, Wasserstoff zwischenzulagern. Also eigentlich beste Voraussetzungen, für Veränderungen, die ein ganzes System betreffen.