Angela Merkel und Jean-Claude Juncker
APA/dpa/Kay Nietfeld
EU ohne Merkel

„Ließ andere nie volle Machtfülle spüren“

Der scheidenden deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist so mancher Kompromiss im vergangenen Krisenjahrzehnt der EU zu verdanken – durch „Zuhörbereitschaft“ und Detailwissen, so Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker im ORF-Gespräch. Das Ende der Ära Merkel könnte auch für die EU zur gröberen Zäsur werden: Das von Deutschland lang vertretene Schuldentabu steht ohne Merkel nun wieder zur Diskussion.

In der EU wird Merkel einigen abgehen: „Sie wird mir persönlich fehlen, aber sie wird vor allem Europa fehlen“, so etwa Luxemburgs Premier Xavier Bettel. Merkel sei eine „Konsensmaschine“, schrieb die deutsche „Welt“. In einer Union aus 27 Mitgliedsstaaten mit jeweils eigenen innenpolitischen Zwängen ist beinahe jeder Kompromiss die Quadratur des Kreises. Mit Merkel ging es dann aber doch immer wieder.

2005 stieß Merkel zum Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, mit Juncker als Kommissionschef (2014–2019) gab es zahllose Verhandlungstage und -nächte. „Sie hat von Anfang an mit ihrer Detailkenntnis beeindruckt. Sie wusste immer, worüber sie redet“, so Juncker zum ORF. Sie sei durch „eine große Tugend“ aufgefallen: „Dass sie allen gleichmäßig zuhörte“, großen wie kleinen Mitgliedsstaaten. „Aber sie hat die anderen nie ihre volle Machtfülle spüren lassen.“

„Fisch im Wasser“

„Merkel ist eine Krisenmanagerin, mit einem pragmatischen und ruhigen Stil. Eine gute Verhandlerin und immer darauf bedacht, Lösungen zu finden“, so die Politanalystin Sophie Pornschlegel vom Brüsseler European Policy Center zu ORF.at. Darin habe sie sich oft genug beweisen müssen in den vergangenen Jahren, sei es beim Thema Migration, der Finanzkrise, dem Brexit und auch bei der Pandemie.

Jean-Claude Juncker im Interview

Im ORF-Interview spricht der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über Angela Merkels Rolle in der Europäischen Union.

Ein gutes Beispiel war der nicht mehr erwartete Durchbruch auf dem Gipfel zum Wiederaufbaufonds am Ende des Vorjahres. Dieser Erfolg wird mehr oder weniger allein Merkel zugerechnet. Polen und Ungarn hatten sich gegen die Einführung des Rechtsstaatsmechanismus gewehrt, der vorsieht, dass EU-Mittel bei Verstößen gekürzt werden können. Nach über 20 Stunden Verhandlungsmarathon durch die Nacht konnte Ratsvorsitzende Merkel, übermüdet, aber erleichtert, doch noch einen Kompromiss präsentieren.

„Sie ist sehr lange an der Macht, hat Erfahrung und kennt alle Beteiligten. Sie hat zu den meisten eine Vertrauensbeziehung aufgebaut“, so Pornschlegel. Gerade in der „Korridordiplomatie“, informellen Gesprächen im Kreis weniger Personen, mache sich das bemerkbar. Über bilaterale Unterredungen komme man zu Einigungen. In den Formaten auf EU-Ebene bewege sich Merkel „wie ein Fisch im Wasser“.

Beliebtheit in Europa groß

Merkels einigender Führungsstil schlägt sich in ihren Beliebtheitswerten nieder, nicht nur in Deutschland. In einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR), einer Brüsseler Denkfabrik, sagten 41 Prozent der Befragten, sie würden Merkel zur „Präsidentin Europas“ wählen – wenn es dieses Amt gäbe. Sie habe europäische Bedenken über ein zu dominant auftretendes Deutschland zerstreut, und ohne Merkel hätte es in den vergangenen Jahren eher mehr Konflikte in der Welt gegeben. Die deutsche Kanzlerin habe „sich in mehr als einem Jahrzehnt der Krisen als Anker Europas positioniert“, so die Untersuchung.

Der Rückenwind ist freilich nicht überall gleich groß. Ihre Haltungen in der Migrationsfrage und bei „Nord Stream 2“ brachten ihr auch wiederholt Vorwürfe ein, sie würde Europa spalten. Noch deutlicher war der Widerstand gegen Deutschland in der Euro-Krise. Der Kurs einiger Länder wie Österreich und Deutschland, Griechenland zu äußerst harten Einsparungen zu zwingen, hatte grobe Verwerfungen zur Folge, die bis heute nachwirken.

„Manche Griechen, Italiener und Spanier werden sich auch freuen, dass Merkel jetzt abtritt“, so Pornschlegel. „Da fehlt auch die Selbstreflexion darüber, was mit der Austeritätspolitik bewirkt wurde.“

Reform der Sparregeln – ohne Merkel

Vor allem aber tut sich mit Merkels Abschied eine Gelegenheit auf, das strikte Festhalten am Fiskalpakt zu beenden. Bald müssen sich die EU-Staats- und -Regierungschefs entscheiden, wie man mit den Schuldenregeln weiter verfährt.

Derzeit sind sie pandemiebedingt noch bis 2023 ausgesetzt. Kaum ein Mitgliedsstaat erfüllt noch die Bedingungen des Pakts. Die Staatsverschuldung in der Euro-Zone ist durchschnittlich auf 102 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Gleichzeitig besteht nach der Pandemie und angesichts des „Green Deal“ der EU ein großer Investitionsbedarf.

EU-Fiskalregeln

Die Mitgliedsstaaten dürfen ihr Haushaltsdefizit nicht über drei Prozent bringen, die Gesamtverschuldung darf nicht über 60 Prozent des BIP steigen. Fast alle EU-Staaten erfüllen diese Kriterien nicht. Wegen der Pandemie sind die Regeln bis 2023 außer Kraft gesetzt.

Erneut ist daher über das Schuldenmachen Streit entlang bekannter Linien entbrannt. Frankreich, Italien und andere Mitgliedsstaaten wollen eine Lockerung erreichen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Defizitregel als Vorgabe „aus einem anderen Jahrhundert“. Auch EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni will eine Erneuerung der Regeln. Angesichts der „immensen Investitionen, die für die Bekämpfung des Klimawandels nötig sind“, sei ein Aufweichen unabdingbar. Eine Staatengruppe unter Federführung Österreichs will hingegen das Aushöhlen des Stabilitätspakts verhindern. Sie fürchten, für die hohen Schulden der Südländer zur Kasse gebeten zu werden.

Vorschläge erst nach der Wahl

Dass der Stabilitätspakt einer Reform bedarf, scheint klar – das Wie ist die Frage. Und das wird zu einem Gutteil in Berlin entschieden werden. Dabei kommt es nicht nur darauf an, wer in Merkels Fußstapfen tritt, sondern auch, wer Juniorpartner der künftigen Koalition wird. Die deutschen Grünen stehen einer Lockerung der Schuldenregeln offen gegenüber, die FDP keineswegs.

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Birgit Schwarz auf den Spuren der deutschen Kanzlerin: Sie begibt sich an die wichtigsten Orte im Leben Angela Merkels und spricht mit Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern.

Die EU-Kommission will ihre Reformvorschläge, welche die Grundlage für die Verhandlungen der Länder sein werden, dementsprechend auch erst im Dezember präsentieren – nach der deutschen Wahl und den folgenden Koalitionsverhandlungen. „Ob mit Merkel oder ohne, man muss im Lichte der Gesamtereignisse weg von einer stupiden Austeritätspolitik“, so Juncker.

Ruf nach neuer Politik

Wie der Pakt am Ende auch aussehen wird – ein Kompromiss unter allen EU-Mitgliedsstaaten wird auch hier nur äußerst schwer zu erzielen sein. Die Europäerinnen und Europäer erwarten auch weiterhin, dass Deutschland in der EU eine Führungsrolle übernimmt. Paradoxerweise wird aber laut der ECFR-Befragung auch gehofft, dass Berlin nach Merkel seine Außen- und EU-Politik grundlegend ändert. Die Menschen sind mehrheitlich der Ansicht, dass die Herausforderungen der Zukunft andere Strategien brauchten, heißt es in der Studie.

„Merkel hat es während der letzten 15 Jahre geschickt verstanden, den Status quo auf dem gesamten Kontinent aufrechtzuerhalten, aber die Herausforderungen, vor denen Europa gegenwärtig steht – die Pandemie, der Klimawandel und der geopolitische Konkurrenzkampf –, erfordern radikale Lösungen, nicht kosmetische Korrekturen“, so Piotr Buras vom ECFR.

„Wie Agatha-Christie-Krimi ohne Miss Marple“

„Wenn das Post-Merkel-Deutschland das europäische Projekt – und damit viel von Merkels Erbe – schützen will, muss es entschlossenes Vorgehen gegen diejenigen, die die Fundamente der Union angreifen, offen politisch unterstützen. Das können die EU und ihre Mitgliedsstaaten nur erreichen, indem sie den Merkelismus aufgeben“, so das ECFR – auch wenn sich künftige EU-Gipfel ohne Merkel „wahrscheinlich so anfühlen wie ein Agatha-Christie-Krimi ohne Miss Marple“.

Zu einem ähnlichen Befund kommt Pornschlegel vom European Policy Center. Merkel habe Krisen gemeistert, „aber keine strategischen Visionen vertreten. Die nächste Führung sollte ambitionierter sein und eine klarere Linie verfolgen.“