Steirischer herbst

Stefanie Sargnagel und die Seele der Grazer

Wenn es beim steirischen herbst heißt, man geht hinaus zu den Leuten, dann ist das durchaus ernst zu nehmen. Installationen im öffentlichen Raum, Kunstplakate, eine poetische Liebeserklärung als Postwurfsendung an alle Grazerinnen und Grazer, und dann: Stefanie Sargnagel, die im Stile Elizabeth T. Spiras die Stadt erkundet.

Das Motto des steirischen Herbsts lautet „The way out“. Und rausgeschickt werden verschiedene KünstlerInnen, um sich der Seele von Graz anzunähern. Oder sich von ihr zu entfernen. Eine von ihnen ist Sargnagel, nach eigenen Angaben die „authentischste Influencerin Österreichs“. Sie hat Erfahrung mit dem dokumentarischen Roadmovie-Format und mit sarkastisch zerhackstückelten Real-Life-Themen. Unvergessen ihre Reise nach Marokko gemeinsam mit Lydia Haider, die es Dank eines ironischen Online-Tagebucheintrags (eine Babykatze wurde da „zur Seite getreten“) sogar zum „Kronen Zeitung“-Skandal brachte.

Für den „Standard“ durchpflügte sie schon einmal gemeinsam mit Aron Rosenfeld Österreich. Und jetzt macht sie mit ihm für den steirischen herbst die Straßen und Parks von Graz unsicher, denn sicher ist vor ihrem vernichtend-freundlichen „mhmmm“ (siehe Video ganz oben) niemand, das Tschocherl-Publikum genauso wenig wie der migrantische Dostojewski-Fan im Park, der wegen „Verbrechen und Strafe“-Hauptfigur Raskolnikow aus Mitleid heiratete.

Steirischer herbst: Preciados Brief an Graz

Für den steirischen herbst hat der Künstler Paul B. Preciado einen Brief an alle Grazerinnen und Grazer geschrieben. Es ist eine Liebeserklärung.

Liebeserklärung an das Tier in uns

Ganz anders als Sargnagel geht der spanische Schriftsteller, Philosoph und Kurator Paul B. Preciado raus zu den Menschen. Er hat einen Brief verfasst, der als Postwurfsendung an alle Grazerinnen und Grazer ging. Der Brief ist nicht im A4-Format gehalten, sondern wesentlich länger. Wer ihn entfaltet und liest, sieht dabei aus wie ein mittelalterlicher Herold, der eine Bulle verliest. In diesem Fall: eine Bulle der Liebe.

Denn Preciado, der in Paris lebt, richtet den Brief als sehr persönliche Liebeserklärung an alle, die ihn lesen. Das beginnt wie ein recht simpler Text, der die Sehnsucht nach persönlichem Kontakt in Lockdown-Zeiten reflektiert, verdichtet sich dann aber zu einem genderfluiden, poetischen Strudel, der alle mitreißen soll, weil das, was Preciado liebt, am Ende das Tier ist, das in jedem von uns steckt.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Kombo von Plakaten zum steirischen herbst
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Links: Amanullah Mojadidi, „Little Blue“, rechts: Boris Mikhailov, „Our Granddaughter Karinotchka, Age Six, Kharkov“
Kombo von Plakaten zum steirischen herbst
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Links: Dana Sherwood, „Inside the Belly of the Alpine Ibex“, rechts: Horst Gerhard Haberl, „TUO YAW EHT“
Kombo von Plakaten zum steirischen herbst
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Links: Li Ran, „Go Forward“; rechts: Hans Haacke, „We (All) Are the People“
Kombo von Plakaten zum steirischen herbst
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Links: Mounira Al Solh, „Things My Neighbour Could Say as She’s Watching the Sunset“; rechts: „Nilbar Güres, Human as a Virus“
Kombo von Plakaten zum steirischen herbst
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Links: Piotr Szyhalski, „The Way Out Is the Way In“; rechts: Rosemarie Trockel, Carissima

(K)eine Revolution

Dass ein Festival wie der steirische herbst mit den Menschen da draußen in Form von Plakaten kommuniziert, ist fürwahr nicht ungewöhnlich. Aber was da in ganz Graz affichiert wurde, in abgeranzten Schaufenstern längst aufgelassener Geschäfte, auf Litfaßsäulen und großformatig auf Plakatwänden, ist nicht der übliche Veranstaltungshinweis. Es sind Kunstwerke, die eigens für den öffentlichen Raum geschaffen wurden – und gar nicht erkennbar auf den steirischen herbst verweisen.

Mounira Al Solhs Sujet „Things My Neighbour Could Say as She’s Watching the Sunset“ ist etwa einprägsames Spiel mit Zuschreibungen. Eine nackte Frau im Kopfstand, ein- und aufgeschrieben ist ihr, was sie alles eben nicht ist: nicht weiß, nicht schwarz, nicht weiblich, nicht männlich und so fort. Ein Befreiungsschlag, möchte man meinen, aber auch da verneint das Plakat: keine Bombe, keine Revolution.

Vertrocknete Blumensträuße und Teddybären

Ein geschicktes Spiel mit der Wahrnehmung ist Thomas Hirschhorns Simone Weil Memorial gleich in der Nähe des Bahnhofs, wenn man Richtung Grazer Innenstadt unterwegs ist. Kaum jemand wird da nicht stehen bleiben. Laminierte Fotos, vertrocknete Blumensträuße, Teddybären auf dem Boden: Normalerweise sieht man solche Ansammlungen von Memorabilia nur dann, wenn Katastrophen passiert sind – ein Terroranschlag etwa.

Aber in Texten und zahlreichen Bildern wird hier an die französische Aktivistin, Philosophin und Mystikerin Simone Weil erinnert. Sie war Anarchistin, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg – und war zugleich religiös und der Mystik zugewandt. Das Erinnerungsmahnmal an Weil entstand übrigens als Community-Projekt Hirschorns gemeinsam mit Menschen aus der Nachbarschaft. „The way out“ wird ihnen von Weil gewiesen.