Rückenansicht eines bewaffneten Soldaten der Taliban in Kabul
Reuters/Wana News Agency
Gewalt, Repressalien

Schwere Vorwürfe gegen Taliban-Regime

„In den gut fünf Wochen seit der Übernahme der Kontrolle über Afghanistan haben die Taliban deutlich gezeigt, dass es ihnen mit dem Schutz und der Achtung der Menschenrechte nicht ernst ist.“ Mit diesen Worten stellte Dinushika Dissanayake von Amnesty International (AI) einen am Dienstag veröffentlichten Bericht über die Lage in Afghanistan nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban vor.

Entgegen anderslautenden Beteuerungen seien Menschenrechtsverletzungen unter dem Taliban-Regime an der Tagesordnung, wie aus dem von AI gemeinsam mit der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) sowie der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) erstellten Bericht hervorgeht.

Die Rede ist von gezielten Tötungen von Zivilisten und sich ergebenden Soldaten sowie die Blockade humanitärer Hilfslieferungen im Panjshir-Tal. Auch die Rechte von Frauen, die Meinungsfreiheit und die Zivilgesellschaft seien bereits deutlich eingeschränkt worden. Der Bericht dokumentiere das „Klima der Angst“ unter Menschenrechtlern, Journalisten und Frauen, sagte die stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Julia Duchrow.

MItglieder der Widerstandsgruppe im Panjshir-Tal
Reuters/National Resistance Front Of Afghanistan
Die NGOs werfen den Taliban auch gezielte Tötungen vor – betroffen seien etwa Widerstandskämpfer im Panjshir-Tal

„Bedrohung ist real“

„Büros und Wohnungen wurden durchsucht“, berichtete Delphine Reculeau von OMCT über die Rechercheergebnisse, „Kollegen wurden verprügelt.“ Es gebe regelmäßige Drohanrufe und Drohbesuche der Taliban bei Menschenrechtlern und Journalisten, heißt es in dem Bericht. Zeugen berichten von Anweisungen der Taliban an afghanische Journalisten, nur noch in Übereinstimmung mit islamischen Gesetzen zu berichten, und von Arbeitsverboten für Frauen.

Laut Reculeau leben Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler in Afghanistan „unter der ständigen Bedrohung von Verhaftung, Folter oder Schlimmerem“. Wer die Flucht geschafft habe, sitze nun „in Militärlagern oder in Nachbarländern fest, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen und wie sie ihr über Nacht zerstörtes Leben wieder aufbauen können“. Die Bedrohung „ist real“, heißt es dazu von Amnesty: „Die Taliban suchen von Tür zu Tür nach Menschenrechtsverteidigern und -verteidigerinnen“ – „sie werden an allen Fronten angegriffen, da sie als Feinde der Taliban gelten“.

Hart erkämpfte Errungenschaften werden zunichtegemacht

Trotz der Versprechungen, dass die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia geachtet würden, wurden wie bereits im Vorfeld weitgehend befürchtet schließlich auch die Frauenrechte stark eingeschränkt – die hart erkämpften Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte beginnen sich dem Bericht zufolge wieder aufzulösen.

Auch hier ist die Rede von einem „Klima der Angst“, was bereits dazu führe, dass viele afghanische Frauen jetzt die Burka tragen, das Haus nicht mehr ohne männlichen Vormund verlassen und andere Aktivitäten einstellen, um Gewalt und Repressalien zu vermeiden. „Die hart erkämpften Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte beginnen sich aufzulösen“, so AI mit Verweis auf „besorgniserregende Berichte“, wonach Frauen zunehmend auch der Zutritt zu ihren Arbeitsplätzen verwehrt werde.

Frauen protestieren vor dem Präsidentenpalast in Kabul
Reuters
Unmittelbar nach der Machtübernahme gingen viele Frauen auf die Straße – Proteste wie diese sind mittlerweile verboten

Der Bericht erinnert auch an die im ganzen Land von Frauen organisierten und von den Taliban teils mit Gewalt aufgelösten Proteste – und in diesem Zusammenhang auf das vom Taliban-Regime Anfang September angeordnete Demonstrations- und Versammlungsverbot.

Appell an internationale Gemeinschaft

Das umkämpfte Panjshir-Tal sollen die Taliban schließlich von der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern abgeschnitten haben. Es gebe gezielte Tötungen von ehemaligen Soldaten und Zivilisten, heißt es weiter. Taliban-Kämpfer prügelten auch auf Demonstranten ein. Fotos und Zeugenberichte dokumentieren die Verletzungen von Folteropfern.

Die Menschenrechtler forderten die internationale Gemeinschaft auf, im Rahmen des UNO-Menschenrechtsrats (OHSHR) konkrete Maßnahmen zu ergreifen und die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu unterstützen. Die internationale Gemeinschaft dürfe die Augen vor den von den Taliban begangenen Verstößen nicht verschließen, sagte Juliette Rousselot von FIDH: „Wenn der UNO-Menschenrechtsrat konkrete Maßnahmen verhängt, sendet dies nicht nur die klare Botschaft, dass Straffreiheit nicht geduldet wird, sondern er trägt auch dazu bei, Verstöße auf breiterer Ebene zu verhindern.“

Rousselot forderte von der internationalen Gemeinschaft zudem eine Unterstützung des IStGH ein, „damit die in Afghanistan begangenen Völkerrechtsverbrechen eingehend untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“.

Erweiterte Taliban-Regierung weiter ohne Frauen

Die Taliban waren bereits zwischen 1996 und 2001 in Afghanistan an der Macht und zeichneten sich insbesondere durch die Unterdrückung der Frauen aus. Frauen mussten sich in der Öffentlichkeit verhüllen, durften nicht arbeiten, Mädchen war der Schulbesuch verboten. Die Religionspolizei war dafür bekannt, Frauen auszupeitschen oder zu verprügeln, die sich nicht an die Regeln hielten.

Seit rund zwei Wochen gibt es in Afghanistan nun erneut eine Taliban-Regierung. Westliche Staaten hatten in diesem Zusammenhang eine inklusive Regierung gefordert, der nicht nur Taliban und auch Frauen angehören. Das zunächst 30 Männer umfassende Kabinett wurde am Dienstag um 17 Personen erweitert – Frauen sind weiterhin nicht dabei.