Fernsehturm zwischen zwei Baustellen in Berlin
ORF.at/Christian Öser
Wohnkonzerne im Visier

Brisantes Votum zu Enteignung in Berlin

Wohnen ist auch in Berlin ein politischer Dauerbrenner: Mieten in der deutschen Hauptstadt werden immer teurer, bezahlbare Immobilien weniger, die Wohnungssuche zur Odyssee. Eine Initiative hat deswegen ein brisantes Volksbegehren auf die Beine gestellt, das die Enteignung von großen Immobilienkonzernen fordert. Das Votum findet am Sonntag statt – parallel zu Bundestags-, Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen. Es ist zwar nicht bindend, könnte für die Politik aber trotzdem zum heißen Eisen werden.

Mit dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ wollen die Initiatoren den Berliner Senat dazu bringen, Maßnahmen für die vollständige Enteignung großer Immobilienkonzerne einzuleiten. Gefordert wird, dass rund 240.000 Wohnungen der großen Immobilienkonzerne in Berlin in eine Anstalt des öffentlichen Rechts übergeführt werden. Das soll die Mietpreise senken und den Markt korrigieren.

Treffen soll es alle „privaten profitorientierten Immobiliengesellschaften“, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen. Diesen seien derzeit ihren Aktionärinnen und Aktionären, nicht ihren Mieterinnen und Mietern verpflichtet, so die Initiative. Betroffen wären rund 15 Unternehmen, darunter die kurz vor einer Fusion stehenden Immobilienriesen Deutsche Wohnen und Vonovia. Allein diese beiden Konzerne besitzen rund 155.000 Wohnungen in Berlin.

Alter Wohnbau in Berlin-Kreuzberg
APA/AFP/David Gannon
Um die Wohnpolitik in Berlin gibt es seit Langem Querelen – ein Volksentscheid soll nun die Politik unter Druck setzen

Die Wohnungen sollen, so die Pläne, nach der Enteignung in Gemeineigentum überführt und von einer Anstalt öffentlichen Rechts verwaltet werden. Auch das Personal der Immobilienkonzerne soll dort unterkommen. Eine erneute Privatisierung müsse dann verboten werden.

Wink mit dem Grundgesetz

Die Initiative hält eine solche Enteignung mit Berufung auf Artikel 15 des Grundgesetzes für legitim. Dort heißt es: „Grund und Boden (…) können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Die verpflichtende Entschädigung sollte laut der Initiative „deutlich unter Marktwert“ ausfallen – die Rede war von sieben bis 14 Milliarden Euro, ein laut Stadt Berlin deutlich zu niedriger Wert.

Die Initiative hatte zwischen Februar und Juni 350.000 Unterschriften gesammelt und sich damit für den Volksentscheid qualifiziert. Stimmt nun die Mehrheit der Abstimmenden, mindestens aber 25 Prozent der Abstimmungsberechtigten, zu, dann gilt der Entscheid als angenommen. Da dieser jedoch kein konkretes Gesetz oder eine Verfassungsänderung zum Inhalt hat, ist das Ergebnis nicht bindend. Der Senat ist nicht verpflichtet, ein Gesetz zur Enteignung auszuarbeiten.

Breite Zustimmung als Druckmittel

Allerdings wäre breite Zustimmung ein deutliches Signal, wie auch der Immobilienexperte Claus Michelsen zuletzt im Deutschlandfunk sagte. Enteignungen seien seiner Meinung nach zwar nicht zielführend, der Entscheid hebe die Debatte aber „auf die oberste politische Ebene“.

Es wird davon ausgegangen, dass auch Enteignungsgegner das Votum unterstützten, um in der Wohnpolitik den Druck auf die Politik zu erhöhen und ein Zeichen zu setzen. Denn die Diskussion über die Berliner Wohnpolitik wird immer erbitterter geführt, in den vergangenen Monaten wurde wiederholt auch protestiert.

Demonstration in Berlin
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Eine Demonstration zugunsten des Volksentscheids

Zur wichtigen Episode wurde auch der umstrittene Berliner Mietendeckel, mit dem die Mieten von etwa 1,5 Millionen Wohnungen 2020 eingefroren worden waren. Er wurde allerdings im April vom Bundesverfassungsgericht gekippt – und nun stehen viele Haushalte vor einer hohen Nachzahlung, was die Debatte weiter anheizt.

Rote Linien und „kubanische Verhältnisse“

Für die neue Regierung, die ebenfalls am Sonntag gewählt wird, dürfte das Wohnthema damit zu einem der wichtigsten werden. Derzeit zeichnet sich ein enges Rennen zwischen der SPD, angeführt von Ex-Ministerin Franziska Giffey, und den Grünen mit Spitzenkandidatin Bettina Jarasch ab. Die seit 2016 regierende Koalition aus SPD, Linken und Grünen hätte Umfragen zufolge weiter eine klare Mehrheit, aber es könnte auch für andere Dreierbündnisse reichen, etwa zwischen SPD, CDU und FDP.

Zwischen SPD, Grünen und Linken spießt es sich nämlich auch an dem Votum zur Enteignung. SPD-Kandidatin Giffey lehnt Enteignungen nicht nur strikt ab, sie hat diese auch als „rote Linie“ in den Koalitionsverhandlungen definiert. Grünen-Kandidatin Jarasch sagte, sie wolle sich die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen als „Ultima Ratio“ vorbehalten – und auch persönlich beim Volksentscheid mit einem Ja stimmen. Die Linke unterstützt den Volksentscheid, alle anderen Parteien lehnen ihn ab.

Auch aus der Immobilienbranche kommen wenig überraschend drastische Warnungen vor einer Zustimmung. Unter anderem übte der Chef des Wohnungskonzerns LEG Immobilien, Lars von Lackum, in der „Süddeutschen Zeitung“ scharfe Kritik. Das Anliegen sei „unfassbar falsch“, der Stadt drohe Verfall wie in Kuba. Nach der Wende hätten Häuser in Ostberlin ähnlich ausgesehen wie heute der Bestand auf dem kommunistisch regierten Inselstaat. „Berlin drohen in einigen Jahren dann ähnliche Verhältnisse, wenn man Eigentum vergesellschaftet“, sagte von Lackum. Es gäbe danach nicht mehr bezahlbaren Wohnraum, sondern weniger und schlechteren.

Zu viele Menschen, zu wenig Wohnungen

Die Explosion der Mieten hat in Berlin verschiedene Ursachen. In keiner anderen europäischen Großstadt ist der Anteil der in Miete lebenden Menschen so hoch, er liegt bei rund 83 Prozent. Gleichzeitig wächst die Stadt stetig, und bezahlbarer Wohnraum wird zur Mangelware. Die Folge: In der 3,7-Millionen-Metropole fehlen laut Schätzungen bis zu 300.000 Wohnungen. Die Lücke erzeugt Druck auf die Mietpreise.

Dirksenstrass in Berlin
APA/AFP/John Macdougall
Der Druck am Berliner Immobilienmarkt ist enorm

Zudem ist der Immobilienmarkt in Berlin eine Spielwiese internationaler Investoren. Laut einer Recherche des „Tagesspiegel“ wurden zwischen 2007 und 2020 in Berlin und Umland insgesamt 42 Milliarden Euro für große Wohnungsdeals ausgegeben – mehr als in Paris und London zusammen.

Diese Investments wollen wieder hereingeholt werden. Die Deutsche Bank geht in einer neuen Studie davon aus, dass Berlin eine der teuersten europäischen Metropolen werden könnte. Viel spreche für einen „Superzyklus“ – also steigende Mieten und Kaufpreise.