Das Reichstagsgebäude in Berlin
APA/AFP/John MacDougall
Spitzenkandidaten gaben Stimme ab

Deutschland-Wahl in vollem Gange

Die Bundestagswahl in Deutschland ist voll angelaufen. Die amtierende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) tritt nicht mehr an. Umfragen sahen Merkels Union mit Spitzenkandidat Armin Laschet zuletzt auf Platz zwei hinter der SPD, die von Olaf Scholz in die Wahl geführt wird. Erwartet wird ein neuer Höchstwert bei den Briefwahlstimmen – es ist nicht der einzige Rekord bei diesem Urnengang. Die Spitzenkandidaten von Union und SPD gaben ihre Stimmen bereits ab.

60,4 Mio. Menschen sind wahlberechtigt. Rund die Hälfte aller Wahlberechtigten könnten dieses Jahr die Stimme per Brief abgeben. Einer der Hauptgründe dafür ist die Coronavirus-Pandemie. Bei der Bundestagswahl 2017 lag der Anteil der Briefwählerinnen und Briefwähler bei etwa einem Drittel.

Ein Rekord wurde jedenfalls schon bei den Kandidierenden verzeichnet: Bei der Bundestagswahl treten laut Bundeswahlleitung insgesamt 6.211 Kandidatinnen und Kandidaten an, so viele wie noch nie. Der Frauenanteil liegt bei einem Drittel. Insgesamt treten 47 Parteien an, sechs davon haben laut Umfragen Chancen, die Hürde von fünf Prozent zu überspringen, die für den Einzug ins deutsche Parlament notwendig sind: CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, Linke und Grüne.

Neue Höchstzahl an Abgeordneten erwartet

In den kommenden Bundestag könnte zudem eine neue Höchstzahl an Abgeordneten einziehen, was dem deutschen Wahlrecht mit seiner Möglichkeit des Stimmensplittings geschuldet ist. Holt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem Gesamtergebnis zustehen, erhält sie Überhangmandate. Um das Verhältnis des Wahlergebnisses zu wahren, wird das für die anderen Parteien dadurch ausgeglichen, dass ihnen weitere Mandate über die Listen zugestanden werden (bekannt als Ausgleichsmandate).

598 Abgeordnete werden nach den Regeln des deutschen Wahlgesetzes mindestens in den Bundestag gewählt. In der ablaufenden Legislaturperiode hatte das Parlament 709 Abgeordnete. Im neuen Bundestag könnte die Zahl der Mitglieder aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten noch sehr viel höher ausfallen. Die derzeit regierende Große Koalition von Union und SPD hat im Herbst 2020 eine Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, mit der ein weiterer starker Anstieg der Abgeordnetenzahl verhindert werden soll.

Umfragen: SPD stabil vor Union

Mit der Bundestagswahl beginnt eine neue Phase in der deutschen Politik. Kanzlerin Merkel nimmt nach 16 Jahren Abschied. Ob ihr Laschet, Ministerpräsident des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und seit Jänner CDU-Vorsitzender, als Regierungschef nachfolgen wird, ist fraglich. In den vergangenen Wochen lag die SPD in Umfragen mit etwa 25 Prozent stabil vor der Union (21 bis 23 Prozent). Auf Platz drei folgen die Grünen (um die 16 Prozent), dahinter etwa gleichauf die liberale FDP und die rechtsextreme AfD (zehn bis elf Prozent), wieder dahinter die Linkspartei (sechs bis sieben).

Bei der Abstimmung vor vier Jahren erhielten CDU/CSU 32,9 Prozent der Stimmen und holten 246 der insgesamt 709 Sitze im Bundestag. Die SPD kam auf 20,5 Prozent (153 Sitze). Die Grünen erhielten 8,9 Prozent (67 Sitze), die FDP 10,7 Prozent (80 Sitze) und die Linke 9,2 Prozent (69 Sitze). Die AfD zog erstmals in den Bundestag ein und wurde mit 12,6 Prozent (94 Sitze) größte Oppositionspartei. Die Wahlbeteiligung lag bei 76,2 Prozent. In einer ähnlichen Größenordnung soll sich die Wahlbeteiligung laut Fachleuten auch bei diesem Urnengang bewegen.

Hoffen auf gute Ergebnisse

Scholz appellierte am Sonntag noch einmal an die Wahlberechtigten, für ein starkes Ergebnis der SPD zur Wahl zu gehen. „Damit die Bürgerinnen und Bürger mir den Auftrag geben, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden“, betonte er in Potsdam nach der Stimmabgabe mit seiner Frau Britta Ernst, der Brandenburger Bildungsministerin. Er hoffe, dass die Menschen ihre Stimme abgeben und damit möglich machen, „was sich abgezeichnet hat, dass es ein sehr starkes Ergebnis gibt“, sagte Scholz.

Deutschland wählt neuen Bundestag

Deutschland wählt am Sonntag einen neuen Bundestag. Nach 16 Jahren tritt Kanzlerin Angela Merkel nicht mehr an. Es dürfte ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der SPD und der Union werden, die Grünen sind weit abgeschlagen.

Auch Laschet rief zur Stimmabgabe auf. Der Unions-Kandidat sagte, die Bundestagswahl entscheide über die Richtung Deutschlands in den nächsten Jahren. „Und deshalb kommt es auf jede Stimme an“, sagte er vor dem Wahllokal an seinem Wohnort in Aachen. Er hoffe, dass alle ihr Wahlrecht nutzen, „damit Demokraten am Ende eine neue Regierung bilden können“.

„Jetzt wird alles gut“

CSU-Chef Markus Söder gab an der Seite seiner Ehefrau Karin Baumüller-Söder seine Stimme ab. „Jetzt wird alles gut.“ Er sei angesichts des Wahlausgangs nicht nervös, aber etwas angespannt, sagte der bayrische Ministerpräsident im Wahllokal im Nürnberger Stadtteil Mögeldorf.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hofft bei der Bundestagswahl auf ein besseres Ergebnis für ihre Partei als in den Meinungsumfragen. „Es wird auf jede Stimme ankommen bei dieser Wahl, das haben wir ja in den letzten Wochen gesehen, wie Spitz auf Knopf es gehen wird“, sagte die Grünen-Vorsitzende am Sonntag bei der Stimmabgabe in ihrem Wahllokal in Potsdam. „Wir erhoffen uns natürlich noch ein paar Stimmen mehr mit Blick auf die Umfrageergebnisse, damit wir einen echten Aufbruch in diesem Land schaffen können.“

Laschet faltete Stimmzettel falsch

Bei der Stimmabgabe faltete Laschet seinen Stimmzettel falsch. Als er den Zettel in einem Wahllokal in die Urne warf, konnten Umstehende sehen, was er angekreuzt hatte. Wegen des Wahlgeheimnisses ist es nicht erlaubt, seinen Stimmzettel offen einzuwerfen. Der Wähler müsse ihn „in der Weise falten, dass seine Stimmabgabe nicht erkennbar ist“, heißt es auf der Website des Bundeswahlleiters. Sollte die Stimmabgabe erkennbar sein, müsste der Wahlvorstand den Wähler zurückweisen.

Bundeswahlleiter Georg Thiel erklärte dazu auf Twitter: „Ein bundesweit bekannter Politiker hat wie erwartet seine eigene Partei gewählt. Eine Wählerbeeinflussung kann darin nicht gesehen werden.“ Bei einer „Fehlfaltung“ teilt der Wahlvorstand einen neuen Stimmzettel aus – gelangt der offen eingeworfene Zettel dennoch in die Wahlurne, „kann er nicht mehr aussortiert werden und ist gültig“.

Ein Aufstieg und zwei Abstiege

Zu Beginn dieses Jahres deutete alles darauf hin, dass die Union wie schon vor vier Jahren auf Platz eins liegen würde. Noch im März sagten Umfragen einen klaren Wahlsieg der CDU/CSU voraus. Dann rutschte Spitzenkandidat Laschet nach einem verunglückten Auftritt im Hochwassergebiet und parteiinternen Streitereien mit dem bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Söder ins Umfragetief.

Profitieren konnten zunächst die Grünen: Kurz nach der Kür von Annalena Baerbock im Frühjahr stieg die Partei in Umfragen auf knapp 30 Prozent und ließ damit die Union hinter sich. Doch dann patzte Baerbock mit verspätet an den Bundestag gemeldeten Zahlungen, Fehlern im Lebenslauf und einem Buch, in dem viele Passagen auffällig nach zuvor schon veröffentlichten Texten klingen.

Parallel zum Abstieg von Laschet und Baerbock und deren Parteien vollzog sich der Aufstieg der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Scholz. Noch am Jahresanfang gaben dem derzeitigen deutschen Finanzminister wohl die wenigsten echte Chancen. Im August gingen die Umfragewerte plötzlich nach oben. Scholz versuchte, sich als Garant für Stabilität zu präsentieren – ganz ähnlich wie Merkel. Zuletzt geriet er wegen einer Razzia im Finanzministerium und Vorwürfen in der Causa Wirecard aber ebenfalls unter Druck.

„GroKo“, „Jamaika“, „Ampel“

Politische Beobachterinnen und Beobachter gehen von einer schwierigen Regierungsbildung aus. Erstmals seit den 1950er Jahren könnte es eine Dreierkoalition geben. Infrage kommt die Ampel aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grünen. Eine Regierung aus SPD und Grünen allein hätte wohl keine Mehrheit; dafür müsste die Linke ins Boot geholt werden.

Rechnerisch ausgehen könnte sich die Neuauflage der Großen Koalition oder die nach den Flaggenfarben benannte „Deutschland“-Koalition (Schwarz-Rot-Gelb). Möglich ist aber auch eine Variante ohne SPD-Beteiligung, die „Jamaika“-Koalition bestehend aus Union, Grünen und FDP und farblich an die Flagge des Inselstaates Jamaika (Schwarz-Gelb-Grün) angelehnt. Eine Koalitionsbeteiligung der rechtsextremen AfD wird von den anderen Parteien abgelehnt.

Die Nachrichtenagentur dpa berichtete über Planspiele in den Parteizentralen, der zufolge die stärkste Partei nicht automatisch den Kanzler stellen könnte. Als Paradebeispiel dafür werde die Bundestagswahl 1976 genannt: Damals lag die CDU/CSU mit ihrem Kandidaten Helmut Kohl ganze sechs Punkte vor der SPD von Kanzler Helmut Schmidt – 48,6 zu 42,6 Prozent. Dennoch setzte die SPD ihre Koalition mit der FDP fort.