Den jüngsten Todesfall machten polnische Grenzschützer via Twitter publik. In der Nacht auf Freitag sei 500 Meter von der Grenze zum östlichen Nachbarland eine Gruppe von Menschen aus dem Irak angehalten worden. Einer der Männer sei vermutlich an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben, Wiederbelebungsversuche durch Rettungskräfte eines Krankenwagens seien vergeblich gewesen. Ein weiterer Mensch sei nach einem positiven CoV-Test in ein Krankenhaus gebracht worden.
Bereits am Sonntag waren im polnischen Grenzgebiet nach Angaben von Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki die Leichen von drei Menschen entdeckt worden. Minsk vermeldete seinerseits, die Leiche einer Irakerin sei in nur einem Meter Abstand zur Grenze nach Polen entdeckt worden. Es gebe „klare Hinweise“, dass die Leiche der Irakerin von Polen nach Belarus „gezogen“ wurde, sagte ein belarussischer Grenzschutzvertreter der staatlichen Nachrichtenagentur Belta.

Polen: „Wollen, dass alle würdevoll behandelt werden“
Gegenüber der BBC berichteten mehrere sichtbar unterkühlte Geflüchtete aus Somalia, Nigeria und Sri Lanka zudem, dass sie polnische und belarussische Grenzschützer in den vergangenen drei Wochen mehrmals „gewaltsam“ dazu gezwungen hätten, die Grenzen zum jeweils anderen Land zu überqueren. Die Menschen versteckten sich in den Wäldern des Grenzgebiets.
Morawiecki versicherte am Freitag auf Facebook hingegen, dass Warschau allen Geflüchteten helfe, die die Grenze nach Polen überwunden hätten. „Wir versuchen, allen illegal Eingereisten zu helfen und ihnen das Leben zu retten, wenn sie rechtzeitig gefunden werden“, schrieb Morawiecki. „Wir wollen, dass alle würdevoll behandelt werden.“
EU zu Polen: Frontex-Unterstützung annehmen
Die EU bat Warschau indes am Freitag, der EU-Grenzschutztruppe Frontex Zutritt zum Grenzgebiet zu gewähren. „Wir wissen, dass sich die polnischen Behörden in einer schwierigen Situation befinden. Die Situation wurde durch einen Versuch, Menschen für politische Zwecke zu instrumentalisieren, geschaffen“, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Freitag.
Es sei wesentlich, dass Polen seinen Grenzschutz effektiv umsetzen könne. „Das darf allerdings nicht auf Kosten von Menschenleben geschehen“, wiederholte der Sprecher einen Appell vom Vortag. „Wir bitten die Behörden der Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass Menschen an den Grenzen die notwendige Hilfe und Unterstützung erhalten.“ Frontex an die Grenze zu lassen sei eine „sehr gute Idee“.
Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson wolle sich am Freitag mit dem polnischen Innenminister Mariusz Kaminski austauschen, hieß es am Vortag. Die Schwedin plane zudem, Polen bald zu besuchen. Auch UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet rief Belarus’ Nachbarstaaten dazu auf, Asylsuchende zu schützen.
Kein Zutritt für Journalisten und NGOs
Die Grenze zwischen Polen und Belarus steht wie andere EU-Ostgrenzen derzeit verschärft im Fokus: Polens Präsident Andrzej Duda hatte Anfang des Monats einen Notstand an der Grenze verhängt, nachdem in den vergangenen Monaten Tausende Geflüchtete überwiegend aus dem Nahen Osten über Belarus in die Europäische Union gekommen waren. Zudem begann Polen mit der Errichtung eines Stacheldrahtzaunes.
Mit der Ausrufung jenes Ausnahmezustands ist allerdings auch die unabhängige Überprüfung der Angaben von Grenzschützern de facto nicht mehr möglich: Gemäß der Regelung ist nämlich nur noch Bewohnerinnen und Bewohnern aus 183 Gemeinden der Zugang zu dem drei Kilometer breiten Streifen entlang der 418 Kilometer langen polnisch-belarussischen Grenze gestattet.

Journalistinnen und Journalisten und Vertreter von Hilfsorganisationen sind in der betroffenen Region nicht zugelassen. Es ist der erste Ausnahmezustand in Polen seit der Wende 1989. Gelten soll er nach derzeitigem Stand noch bis Anfang Oktober. Seit Anfang September registrierte Polens Grenzschutz mehr als 5.000 Versuche eines illegalen Grenzübertritts. Im August waren es rund 3.500 Versuche.
Polen ortet „organisierten Sturmangriff“
Die Regierungen der EU-Staaten Polen, Litauen und Lettland beschuldigen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. Man habe es mit einem „organisierten Sturmangriff“ auf die polnische Grenze zu tun, sagte Morawiecki der Agentur PAP zufolge am Montag. Man werde sich nicht beugen und sich nicht erpressen lassen.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach in diesem Zusammenhang zuletzt von einem „hybriden Angriff, um Europa zu destabilisieren“. Lukaschenko hatte Ende Mai angekündigt, dass Minsk Geflüchtete nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern werde – als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik.

Polens Vorgehen rief zuletzt scharfe Kritik im Land hervor: „Es ist der polnische Grenzschutz, der diese Leute zurück an die Grenze und in den Wald schickt, damit sie so enden“, schrieb der Oppositionsabgeordnete Franciszek Sterczewski auf Twitter. Vertreter von Nichtregierungsorganisationen werfen der Regierung in Warschau vor, dass sie viele Flüchtlinge nicht ins Land lasse und es ihnen damit unmöglich mache, Asyl zu beantragen.