Viele Fahrzeuge vor einer Tankstelle in einer englischen Stadt
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Leere Tankstellen

London prüft Hilfe durch Lkw-Fahrer aus EU

In Großbritannien spitzt sich die auf den enormen Mangel an Lastwagenfahrern zurückzuführende Versorgungskrise zu. Nachdem zuletzt leere Regale in Supermärkten für Schlagzeilen sorgten, sind mittlerweile auch erste Tankstellen zu. Man werde nun „Himmel und Erde in Bewegung setzen“, um das Problem schnellstmöglich zu beheben, sagte am Freitag Verkehrsminister Grant Shapps – und ein Lösungsansatz dreht sich um Lkw-Fahrer aus der EU.

Er werde „alle Optionen in Betracht ziehen“, nichts sei ausgeschlossen, um sicherzustellen, dass der Mangel an Lkw-Fahrern behoben wird, sagte der Minister gegenüber SkyNews. Eine Möglichkeit sei die Ausstellung kurzfristiger Facharbeitervisa, „um den Pool potenzieller Lkw-Fahrer auf dem europäischen Festland anzuzapfen“.

Der britische Premier Boris Johnson habe am Freitag eine schnelle Lösung angeordnet, um eine Eskalation der Krise zu verhindern, berichten am Samstag britische Medien. Das britische Kabinett stehe vor einer „außergewöhnlichen Kehrtwende“, die es Tausenden Lkw-Fahrern nach dem „Brexit“ wieder ermöglichen werde, ins Vereinigte Königreich zu kommen. Einem Downing-Street-Sprecher zufolge prüfe die Regierung „vorübergehende Maßnahmen, um unmittelbare Probleme zu vermeiden, aber alle Maßnahmen, die wir einführen, werden streng zeitlich begrenzt sein“.

Geschlossene Tankstelle in Südengland
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Seit Donnerstag sind in Großbritannien erste Tankstellen wegen Versorgungsengpässen zu

„We’re running on empty“

Im Notfall könnten auch britische Soldaten einspringen, um Tankstellen mit dem nötigen Treibstoff zu versorgen. Das britische Verteidigungsministerium wies darauf hin, dass eine zivile Partei eine Anfrage stellen müsse, bevor Soldaten zum Einsatz kommen könnten. „Wenn das helfen kann, werden wir sie einsetzen“, sagte dazu Shapps gegenüber der BBC.

Angesichts erster Berichte über Panikkäufe, aber wohl auch wiegen Schlagzeilen wie „Wir sitzen bald auf dem Trockenen“ (original: „We’re running on empty“, „The Sun“, Anm.) ist Shapps um Beruhigung bemüht. Er zeigte sich überzeugt, dass das Problem „relativ schnell behoben“ werde. Die Rede ist von „Spannungen und Belastungen im System“ – im Großen und Ganzen hätten sich diese aber nicht auf den Alltag der Menschen ausgewirkt, und „in den Raffinerien gibt es keinen Mangel an Treibstoff“.

„Schlecht, sehr schlecht“

Das stellt auch der Mineralölkonzern British Petroleum (BP) nicht infrage – allerdings habe man zunehmend Probleme, den Treibstoff zu den Tankstellen zu liefern. Deutlich wurde das am Mittwoch, als BP und andere Tankstellenbetreiber erste Standorte schließen mussten. Betroffen waren neben BP etwa auch Tankstellen von Esso und Tesco.

„Wir haben an einigen unserer Standorte Probleme mit der Kraftstoffversorgung und können daher leider eine Handvoll Standorte aufgrund eines Mangels sowohl an bleifreiem Benzin als auch an Diesel vorübergehend nicht betreiben“, sagte ein BP-Sprecher am Donnerstag dem Sender ITV.

BP informierte laut ITV die Regierung bereits vor Tagen über die Probleme: Die Lage sei „schlecht, sehr schlecht“, sagte die zuständige BP-Managerin Hanna Hofer bei einem Treffen mit Regierungsvertretern. Hofer habe erklärt, dass der Konzern nur über zwei Drittel des normalen Tanklagerbestands, „der für einen reibungslosen Betrieb erforderlich ist“, verfüge – und dass dieser Wert „sehr schnell“ zurückgehe.

Zehntausende Führerscheinprüfungen ausständig

In Großbritannien fehlen nach Angaben des Branchenverbands Road Haulage Association mindestens 100.000 Lkw-Fahrer. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass etwa 25.000 Lastwagenfahrer nach dem Brexit auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt sind und dass die Coronavirus-Pandemie die Ausbildung neuer Fahrer behindert.

Rund 40.000 Fahrer hätten wegen CoV ihre Lkw-Führerscheinprüfungen bisher nicht ablegen können, so Shapps, der laut „Guardian“ anfügt, dass die Regierung bereits das Gesetz geändert habe und er davon ausgehe, dass die damit deutlich aufgestockten Möglichkeiten für Lkw-Führerscheinprüfungen schon bald diesen „Engpass“ beseitigen werden.

Branche fordert langfristige Lösung

Man müsse aber auch dafür sorgen, dass der Beruf des Lkw-Fahrers attraktiver werde, so Shapps, der laut Reuters auch eingestand, dass Großbritannien lange von billigen Arbeitskräften zumeist aus Osteuropa profitiert habe. Einen Zusammenhang des aktuellen Mangels an Lkw-Fahrern mit dem EU-Austritt weist die britische Regierung aber nach wie vor zurück.

Während rund um die Lkw-Fahrer-Krise derzeit Bilder von chaotischen Szenen auf einigen britischen Tankstellen in der Auslage stehen, sorgt der Mangel an Lkw-Fahrern auch für immer größer werdende Lücken in den britischen Supermarktregalen. Nach Zahlen der Statistikbehörde Office of National Statistics (ONS) hatte in den letzten zwei Wochen bereits jeder Sechste Schwierigkeiten, „wesentliche“ Artikel zu finden. Zunehmende Besorgnis gebe es schließlich mit Blick auf das näher rückende Weihnachtsgeschäft. Laut „Guardian“ betrachte der Einzelhandel hier Beeinträchtigungen bereits als „unvermeidlich“.

Auch was die im Raum stehende Änderung der Visaregeln betrifft, sei es aus Branchensicht demnach möglicherweise schon zu spät, um damit für eine störungsfreie Logistik des Weihnachtsgeschäfts der Einzelhändler zu sorgen. Internationale Fahrer könnten aber – wenn auch nur kurzfristig – durchaus helfen, die angespannte Lage zu entspannen, so ein Vertreter der Branche, der gegenüber Reuters sagte: Langfristig brauche man aber höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.