Wahlplakate im Abendlicht von Rot, Schwarz, Grün
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Die deutsche Wahl

Zwischen Mitte und Mitte

Wenn Deutschland am Sonntag seinen neuen Bundestag wählt, dann steht ein Kopf-an-Kopf-Duell im Mittelpunkt, das vor Wochen noch ein „Triell“ zu werden schien. Armin Laschet (Union) oder Olaf Scholz (SPD) wird wohl an der Spitze einer neuen Koalitionsregierung stehen. Die einst mitfavorisierte Grüne Annalena Baerbock ist weit abgeschlagen. In der Merkel-Nachfolge lag vorne, wer im Finale die wenigsten Fehler machte. Das schien zuletzt für Scholz zu sprechen. Doch der Zieldurchlauf könnte knapp werden. Man darf an 2002 denken.

„Die Regierung bildet, wer die Nummer eins stellt.“ Auf diese Losung, die er am Ende schon mantraartig vor sich her trug, hat sich der im Unionskandidaten-Rennen unterlegene Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder (CSU), festgelegt. Er macht damit seinem Parteifreund Laschet Druck (Marke: Wär ich angetreten, hätten wir diese Frage nicht). Söder hat aber vielleicht bei Unentschlossenen in Deutschland doch noch einmal in Richtung einer Schicksalswahl – samt linkem Schreckgespenst – mobilisiert.

Scholz von der SPD zeigte auch auf den letzten Metern seine Tugenden: nur keine Fehler machen. Die Raute von Merkel, er würde sie am besten weiter tragen, und nicht umsonst sah man Scholz bei vielen Auftritten samt Merkel-Handgestus Politbuddha-artig in sich ruhen. Es könnte am Sonntag eine lange Wahlnacht werden wie 2002, als Edmund Stoiber aus München nach Berlin aufbrach, beim Abflug Sieger war, bei der Landung aber Verlierer gegen einen Gerhard Schröder, der selbst nicht mehr an seinen Erfolg gedacht hatte. Man darf also gewarnt sein.

Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) am 22. September 2002
Reuters/Ina Fassbender
Bundestagswahlen können sich spät entscheiden. Erinnerungen an 2002, als sich Stoiber als Sieger wähnte.

Nicht einmal die Hausdurchsuchungen in seinem Ministerium vor einer Woche konnten Scholz aus den Angeln der Ruhe heben. Hier segelte der Hanseate auf sachtem Kurs, der ihn am Ende wegen der Fehler der anderen (Laschets Lachen beim Hochwasser und Baerbocks Buch-Schummeleien wie andere Vergesslichkeiten) völlig überraschend in Führung gebracht hatte. Und die siechende SPD hatte ausgerechnet mit Scholz ihre Zukunftshoffnung. Eine Nummer, zu der zugegeben einiges an Vorarbeit gehörte, etwa die Eliminierung des Gabriel-Lagers aus der Partei, die Scholz einst noch mit Andrea Nahles als SPD-Chefin sehr konsequent durchgezogen und dabei politische Leichtgewichte wie Heiko Maas als Außenminister in Kauf genommen hatte.

Rückblick: „Elefantenrunde“ in Deutschland

Drei Tage vor der Bundestagswahl in Deutschland hat die letzte TV-Debatte stattgefunden. Zum ersten Mal waren alle sieben Parlamentsparteien vertreten.

Es werden wohl drei in eine Koalition müssen

Klar scheint, dass keiner der beiden Kandidaten der ehemaligen Volksparteien eine Zweierkoalition wird anführen können. Eine Dreierkonstellation scheint gefragt, und hier zeichnen sich realistisch drei Modelle ab, die eine Konstante hätten: die FDP als Teil einer Koalition.

Die „Jamaika“-Koalition Schwarz-Grün-Gelb, die in der letzten Legislaturperiode just an jenem scheiterte, der jetzt in jeder Talkrunde als Finanzminister in spe dasaß: FDP-Chef Christian Lindner. Dann wäre da noch die „Deutschland“-Koalition, mit SPD, Union und FDP unter je unterschiedlichen Führungsvorzeichen – von der wiederum jede und jeder sagt, sie sei am wenigsten gewollt (was sie freilich nicht unwahrscheinlicher macht). Und schließlich die Option von Rot, Gelb und Grün, also die „Ampel“, bei der freilich der größte inhaltliche Spagat zwischen freidemokratischem Wirtschaftsliberalismus und grünem Umweltdirigismus zu bewältigen wäre.

Die von manchen gefürchtete Rot-Rot-Grün-Variante erscheint realpolitisch wie zahlenmäßig nach letzten Umfragen trotz Schwankungsbreiten eher unwahrscheinlich.

Warum es eine Wahl zwischen Mitte und Mitte ist

Dass es bei den Hauptkontrahenten eine Wahl zwischen Mitte und Mitte ist, zeigen die Eckdaten in der Wirtschafts- und Sozialentwicklung Deutschlands der letzten 20 Jahre. „Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft seit der Gründung der Bundesrepublik, wer hart arbeite, steige auf, mit stetig mehr Geld und Doppelhaushälfte – es wurde brüchig“, schrieb zuletzt Alexander Hagelüken in der „Süddeutschen Zeitung“.

Die Agendapolitik von Schröder konnte zwar im Effekt die Arbeitslosigkeit halbieren, und Merkel konnte zunächst eine auf Hinterlassenschaftsverwaltung abgestellte Wirtschaftspolitik fahren. Der Effekt freilich, dass mehr Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu mehr Wachstum führten, blieb in Deutschland in den letzten Jahren aus. Die Steuerpolitik der letzten 30 Jahre, so meinte etwa der Duisburger Ökonom Achim Truger, habe die Ungleichheit verstärkt. Oder gezeigt, dass es zumindest für Deutschland keine „Trickle-down“-Wirkung gab, also eine Belebung der Konjunktur durch Entlastung der oberen Einkommen bei Stagnation der Maßnahmen unten und in der Mitte.

Schwarz (ORF) aus Berlin

ORF-Korrespondentin Birgit Schwarz berichtet aus Deutschland über die Wahl am Sonntag.

Progressive Steuerpolitik, eine Glaubensfrage?

Entlastungen seien laut Truger als Überschüsse geblieben oder ins Ausland abgeflossen. Einen Eindruck, den auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor Jahren in einer Studie mit der FU Berlin stützen konnte. Das Steuersystem sei zwar progressiv, so die Studie mit dem Titel „Wer trägt die Steuerlast in Deutschland?“, 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zahlen nach gemeinsamer Politik von Union und SPD abzüglich Inflation mehr Steuern als Ende der 1990er Jahre, entlastet wurden die oberen Einkommen.

Die Umverteilungswirkung des progressiven Steuersystems läuft für den DIW-Ökonomen Stefan Bach mehr auf eine Glaubensformel hinaus – belegen lasse sie sich jedenfalls nicht mehr. Dass die deutsche Gesellschaft sozial stärker unter Druck gekommen ist und auch westdeutsche Städte deutlichen Infrastruktur-Aufholbedarf haben, sieht man sogar im reichen Bayern, etwa der Landeshauptstadt München.

Entgegengesetzte Versprechen

Im Finale der Wahl standen einander zwei Versprechen diametral entgegen. Die einen, die die Notwendigkeit von Aufschwung durch Liberalisierung erwarteten, damit man wachstumsmäßig nicht so schwach aus der Pandemie komme wie andere Staaten (so etwa FDP-Chef Lindner mit einem Vergleich zu den USA oder Großbritannien). Auf der anderen Seite stehen Ankündigungen größerer Lenkungseingriffe im sozialen Bereich. Und hohe Ausgaben für deutlich mehr Klimaschutz bzw. Investitionen in die Infrastruktur (50 Mrd. etwa nach Ankündigung der Grünen in der großen TV-Debatte am Donnerstagabend).

Spannung vor Wahl in Deutschland

Im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) sind die Zweifel an der Eignung von CDU-Politiker Armin Laschet als möglichem Nachfolger von Kanzlerin Angela Merkel kurz vor der Bundestagswahl teils groß – und das, obwohl das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands seit 2017 von dem Aachener regiert wird. Aber warum? ORF.at hat sich dort umgehört.

Wenn am Ende eine Dreierkoalition im Raum steht, dann wird sich die Programmatik tendenziell wieder in der Mitte treffen. Damit hat Deutschland neben allen Ankündigungen von Lagerwahlkämpfen hinreichend Erfahrung.