„Vielleicht müssen zunächst einmal die FDP und die Grünen miteinander reden“, sagte am Wahlabend FDP-Chef Christian Lindner in der „Berliner Runde“. Der FDP-Bundesvorstand beschloss bereits am Montag in einem ersten Schritt „Vorsondierungen“ mit den Grünen. Ähnlich war die Einschätzung der grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock: „Die Zeit, wo einer, der Kanzler werden will, dann alle durchtelefoniert, ist vorbei.“ Am Montag kündigte auch der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, an, es werde zuerst in einem „sehr kleinen Kreis“ mit der FDP über die Bildung einer gemeinsamen Regierung gesprochen.
Ob es nun eine SPD- oder CDU-geführte Regierung geben soll, wollen also die dritt- und viertstärkste Partei miteinander entscheiden. Immer wieder wurde am Wahlabend etwa von Lindner wiederholt, dass weder die erstplatzierte SPD unter Scholz mit knapp 26 noch die zweitplatzierte Union (CDU/CSU) unter Laschet mit gut 24 Prozent automatisch einen Führungsanspruch habe – 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler seien nämlich auch gegen die jeweilige andere Partei gewesen.
Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kommt die SPD auf 25,7 Prozent. Die Union aus CDU und CSU erreicht 24,1 Prozent. Die Grünen kommen auf 14,8 Prozent, die FDP auf 11,5 Prozent. Für die AfD stimmten 10,3 Prozent. Die Linkspartei erhielt zwar nur 4,9 Prozent, zieht aber durch den Gewinn von drei Direktmandaten auch mit Listenkandidaten in den Bundestag ein. Bei der Sitzverteilung kommt die SPD auf 206 Sitze, die Union auf 196 Sitze, die Grünen auf 118 Sitze und die FDP auf 92 Sitze. Die AfD belegt 83 Mandate, die Linke 39.
„Jamaika“, „Ampel“ – oder doch wieder „GroKo“?
Damit zeichnet sich auch ab, dass die Parteien nun wohl einige Wochen miteinander verhandeln werden. Am wahrscheinlichsten sind die Koalitionsoptionen „Jamaika“ (Union, Grüne, FDP) und „Ampel“ (SPD, FDP, Grüne), wenn auch die Große Koalition noch möglich wäre. Doch weder SPD noch Union scheinen an einer weiteren Zusammenarbeit interessiert. Vergessen werden sollte dabei aber nicht, dass die Parteien schon 2017 nicht miteinander koalieren wollten – weil Gespräche über „Jamaika“ scheiterten, kam es letztlich doch dazu.
Während Scholz mit seinem Wunsch nach einer „pragmatischen Regierung“ ein „Ampelbündnis“ anstrebt, setzt die Union nach ihrem historisch schlechten Abschneiden auf „Jamaika“. Für die Union und Laschet ist das Streben nach dem Kanzleramt immerhin die letzte Chance, sich noch irgendwie aus dem Wahldebakel zu retten – in der Partei ist das Vorhaben aber ob der Verluste umstritten. Den Regierungsanspruch will Laschet laut Berichten von „Welt“ und „Bild“ aber nicht gestellt haben, es soll sich lediglich um ein „Angebot“ handeln.

„Respekt voreinander gewachsen“
Die Grünen machten in den letzten Wochen wiederum keinen Hehl daraus, dass sie der SPD näher stehen als der Union. Mit Blick auf ein Dreierbündnis verwies Hofreiter von den Grünen am Montag auch auf die seiner Ansicht nach katastrophalen Werte des Unionskanzlerkandidaten Laschet. „Die Nähe zur SPD ist nun wirklich größer als zur Union“, sagte auch der Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, in der ARD.
Die FDP bekräftigte am Sonntag hingegen einmal mehr ihre Präferenz für die Union. „Die größten inhaltlichen Übereinstimmungen sehe ich in einer Jamaika-Koalition. Und das ist jetzt ein Gespräch, das geführt werden muss, ob sich alle Beteiligten darin fair wiederfinden können“, sagte FDP-Chef Lindner. Weder Grüne noch FDP – die bei den Erstwählerinnen und -wählern SPD und Union abhängten – wollten sich aber bisher auf eine Koalitionsoption festlegen.

Aus seiner Erfahrung ergebe es Sinn, „dass die Parteien, die erst einmal am weitesten voneinander entfernt sind, (…) dass die mal schauen, ob die das zusammen hinkriegen“, sagte Grünen-Kochef Robert Habeck am Montag bei NDR Info. Das seien nun einmal FDP und Grüne – „wir sind in sozial-, steuer-, finanzpolitischen Fragen wirklich konträr“. „Also insofern werden wir zuerst auf die FDP zugehen.“
Es gebe zwar „fundamentale Unterschiede“ zwischen der FDP und den Grünen, etwa in der Frage nach der Bewältigung des Klimawandels in in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, hob am Montag etwa auch der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, hervor. „Trotzdem ist in den vergangenen vier Jahren im Parlament der Respekt voreinander gewachsen.“ Inhaltlich müssten sich beide Parteien aufeinander zu bewegen. Abgesehen davon wird es bei den grün-gelben Gesprächen voraussichtlich auch um Ministerposten gehen. Beide Parteien wollen den künftigen Finanzminister stellen – bei der FDP wird Lindner, bei den Grünen der zweite Parteichef Habeck in den Raum gestellt.
Kommentatoren sehen unklare Lage
Wie unklar die Lage ist, wird auch in ersten Analysen deutscher Medien deutlich. „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann sieht den Vorteil von „Jamaika“ etwa darin, dass einander Laschet und Lindner bereits aus einer Koalition in NRW kennen und schätzen. Nur für die Grünen gebe es seiner Ansicht nach in der Variante wenig zu gewinnen. Für die Grünen wäre die „Ampel“ die „erfolgversprechendere Alternative“ – für die FDP sieht er bei jenem Bündnis die „Chance zur Profilierung: als die Stimme der Vernunft“. Wesentlich sei für Grüne und FDP nun, dass sie „fünf Projekte definieren, die sie in einem Koalitionsvertrag festhalten wollen“.
„Verhandlungsgeschick muss vor allem Christian Lindner zeigen“, schreibt der „FAZ“-Journalist Jasper von Altenbockum. „Die Gefahr für die FDP, Wähler zu verprellen, die Lindner mit einer klaren Jamaika-Vision angelockt hat, ist groß“, schreibt er über eine mögliche „Ampelkoalition“. Aber: „Die Grünen werden der FDP trotzdem nicht den Gefallen tun, ohne Vermögensteuer, Mindestlohn und Klima-Hammer auf Scholz oder Laschet zu warten. Lindner wird also großes Geschick zeigen müssen, vielleicht sogar unter Hintanstellung eigener politischer Ambitionen.“
ARD-Journalistin Wenke Börnsen verweist in einem Kommentar auch darauf, dass Lindner gerade ob seiner größeren Nähe zur Union bei Gesprächen mit der SPD mehr für die Partei herausholen könnte als etwa mit der CDU/CSU. So oder so ist jetzt schon klar, sowohl Grüne als auch FDP werden ihren Preis für eine künftige Dreierkoalition in die Höhe treiben.