Autofahrer stellen sich an Tankstellen an
AP/Jon Super
Lange Staus vor Tankstellen

Britische Armee in Bereitschaft

In Großbritannien haben sich infolge der Benzinengpässe am Montag erneut lange Schlangen vor den Tankstellen gebildet. Die britische Tankstellenvereinigung PRA führte die Treibstoffknappheit vor allem in den Städten auf Panikkäufe zurück. Die Armee wurde in Bereitschaft versetzt, um die Versorgung mit Treibstoff sicherzustellen, falls die Krise weiter anhält.

In Großbritannien fehlen Schätzungen zufolge rund 100.000 Lkw-Fahrer. Wegen der Situation ist es zu Engpässen an Tankstellen und bei Lebensmitteln gekommen. Tankstellenbetreiber wie Shell, BP und Esso erklärten, es gebe „reichlich Treibstoff in den britischen Raffinerien“. Es fehlten aber die Fahrer zum Ausliefern. Die Konzerne rechnen mit einer Normalisierung der Lage in den kommenden Tagen. Sie riefen ihre Kunden auf, „wie gewohnt“ Kraftstoff zu kaufen – also keine Hamsterkäufe vorzunehmen.

Doch vor den Tankstellen bildeten sich am Montagmorgen erneut lange Schlangen. Teilweise warteten Autofahrer bereits in der Nacht, um Treibstoff zu ergattern. „Eines unserer Mitglieder erhielt mittags einen Tank voll Benzin, und am späten Nachmittag war der Inhalt bereits in den Autos der Leute verschwunden“, sagte der PRA-Vorsitzende Brian Madderson im Sender BBC. Aufgrund der starken Nachfrage hatten rund die Hälfte der insgesamt 8.000 Tankstellen am Sonntag keinen Treibstoff mehr.

Autofahrer stellen sich an Tankstellen an
Reuters/Henry Nicholls
Der Treibstoffengpass sorgt seit Tagen für Stau und lange Schlangen vor Tankstellen in London

Armeeeinsatz für „vorübergehende Maßnahme“

Sollte sich die Lage in den kommenden Tagen nicht bessern, will die britische Regierung die Armee einsetzen. Fahrer von Armeetanklastwagen würden in Bereitschaft versetzt „und bei Bedarf eingesetzt, um die Kraftstofflieferkette weiter zu stabilisieren“, kündigte das Wirtschaftsministerium am Montagabend an. Es handle sich um eine „begrenzte Anzahl“ von Fahrern und um eine vorübergehende Maßnahme.

Großbritanniens größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, Unison, forderte, Arbeitnehmer in Schlüsselbranchen wie Ärzte, Lehrer und Polizisten vorrangig mit Benzin zu versorgen. „Die Regierung könnte dieses Problem jetzt lösen, indem sie per Notfallbefugnis Tankstellen für die ausschließliche Nutzung durch Beschäftigte in Schlüsselpositionen ausweist“, sagte Generalsekretärin Christina McAnea.

„Öffentliche Geduld nahezu erschöpft“

Auch die Zeitung „Mirror“ forderte am Dienstag auf der ersten Seite, systemrelevante Beschäftigte müssten an den Zapfsäulen zuerst drankommen. Das Boulevardblatt „Sun“, normalerweise aufseiten von Premier Boris Johnson, kritisierte die Regierung wegen des seit vier Tagen andauernden „Chaos“. „Bekomm’s in den Griff, Premierminister. Die öffentliche Geduld ist nahezu erschöpft.“

Verkehrsminister Grant Shapps machte dagegen die Autofahrerinnen und Autofahrer des Landes verantwortlich: „Je eher wir alle zum normalen Einkaufsverhalten zurückkehren, desto schneller können wir zur Normalität zurückkehren“, sagte er auf SkyNews. Der Chef des Tankstellenverbands, Brian Madderson, sagte dem Sender, es werde hoffentlich im Laufe der Woche „erste Anzeichen einer Stabilisierung“ der Lage geben.

Visabestimmungen für Lkw-Fahrer werden gelockert

Kritiker werfen der Regierung Untätigkeit angesichts des historischen Mangels an Lkw-Fahrern vor, der durch den Brexit und die CoV-Pandemie entstanden ist. Um die Krise beizulegen, hatte die Regierung am Wochenende eine Lockerung der Visabestimmungen für ausländische Lkw-Fahrer und Fachkräfte aus anderen Branchen beschlossen.

Die angekündigte Visalockerung bedeutet eine klare Abkehr von der restriktiven Einwanderungspolitik von Premierminister Boris Johnson, die er seit dem Austritt aus der EU verfolgt. Johnson hatte wiederholt erklärt, er wolle Großbritanniens Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften beenden.

Analyse: Benzinkrise in Großbritannien

In Großbritannien fehlen immer noch Lkw-Fahrer, um Benzin zu den Tankstellen zu bringen. ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner berichtet aus London über die Auswirkungen.

Der WKO-Wirtschaftsdelegierte Christian Kesberg bezeichnet die Engpässe als Luxusproblem. Es fehle nicht an Treibstoff, sondern an Fahrern, wie es allgemein einen Fachkräftemangel, insbesondere in der Landwirtschaft und den Produktionsbetrieben, gibt.

Dass europäische Facharbeiter dieses Problem lösen, glaubt Kesberg nicht – denn diese hätten gar keine Veranlassung, auf die Insel zu wechseln, sagte er heute im Ö1-Mittagsjournal. Eine weitere Spaltung der Gesellschaft in Gegner und Befürworter des Brexit ortet Kesberg nicht – wer schon vorher gegen den Brexit war, sehe sich nun durch den Versorgungsmangel bestätigt, er habe aber keinen Stimmungswechsel feststellen können.

Barnier sieht Krise als Brexit-Folge

Der ehemalige EU-Chefunterhändler in den Brexit-Gesprächen, Michel Barnier, sieht einen Zusammenhang zwischen der Benzinkrise in Großbritannien und dem Austritt des Landes aus dem Europäischen Binnenmarkt. Darauf angesprochen sagte der Franzose der BBC am Montagabend: „Unser wichtigstes Kapital ist der Binnenmarkt, und elementarer Teil davon ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit.“ Großbritannien müsse nun den Konsequenzen des EU-Austritts ins Auge sehen. Es sei eine „unfassbare Entscheidung“ gewesen, den Binnenmarkt zu verlassen, so Barnier weiter.

Auch der deutsche SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz machte den Brexit für die Probleme an britischen Tankstellen verantwortlich. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit sei ein Prinzip der EU, erklärte er am Montag in Berlin. „Wir haben hart daran gearbeitet, die Briten zu überzeugen, die Union nicht zu verlassen“, betonte Scholz. Den Lastwagenfahrermangel in Großbritannien führte Scholz auch auf mutmaßlich zu niedrige Löhne zurück. „Wenn Sie nicht genug Menschen finden, die den Job machen wollen, hat das möglicherweise mit den Arbeitsbedingungen zu tun.“

Deutsche Spediteure zweifeln an Lösung durch Visa

Der Chef des deutschen Bundesverbandes Spedition und Logistik, Frank Huster, bezweifelt, dass befristete Visa für Fachkräfte vom europäischen Kontinent die Krise bereinigen könnten. 14.000 Fahrer aus dem EU-Ausland hätten nach dem Brexit die rechtliche Grundlage für ihre Weiterbeschäftigung verloren. „Der Arbeitsmarkt auf dem europäischen Kontinent hat diese Beschäftigten dankbar aufgenommen – sie sind für eine Neubeschäftigung im Vereinigten Königreich jetzt verloren“, so Hustler.

Die britische Volkswirtschaft ist die fünftgrößte der Welt. Mitten in der Erholung von der CoV-Krise gibt es neue Rückschläge. So bringt inzwischen ein starker Anstieg der Erdgaspreise Energiekonzerne in Bedrängnis. Zudem führen die Lieferengpässe dazu, dass auch alltägliche Gebrauchsgüter vor dem Weihnachtsgeschäft deutlich teurer werden.