Fleischer schneiden Fleisch
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Europas Fleischindustrie

System der Ausbeutung von Migranten

Tiere, Umwelt und Beschäftigte in den größten Schlachtbetrieben zahlen den hohen Preis für möglichst billiges Fleisch. Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie haben schon öfters Schlagzeilen gemacht, nun nahm sich der „Guardian“ in einer umfangreichen Recherche des Themas an. Die förderte unglaubliche Zustände für Arbeitskräfte etwa aus Asien und Afrika zutage.

In der europäischen Fleischindustrie arbeiten laut der britischen Tageszeitung etwa eine Million Menschen, der Sektor ist an die 220 Mrd. Euro schwer. Die ganz großen Schlacht- und Verarbeitungsbetriebe stehen in Europa etwa in den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland, Migranten und Migrantinnen, mittlerweile immer häufiger auch aus Ländern der früheren Sowjetunion, Afrika und Asien, machten dort den Großteil der Belegschaft aus.

Für die Arbeitsverhältnisse, wie sie der „Guardian“ beschreibt, ist „prekär“ ein Hilfsausdruck. Die europäische Fleischindustrie sei mittlerweile zum „Brennpunkt“ geworden, ausländische Beschäftigte, engagiert über Sub- und Leiharbeitsfirmen, verdienten in einer Art Zweiklassensystem oft um 40 oder 50 Prozent weniger als direkt in denselben Betrieben Angestellte. Der Industriezweig, schrieb die britische Zeitung, brauche eine ständige Quelle austauschbarer, schlecht bezahlter, „hyperflexibler“ Arbeitskräfte, um zu funktionieren.

Wo sollen die Margen herkommen?

Das System sei „quer durch Europa krank“, zitierte der „Guardian“ den stellvertretenden Generalsekretär des Europäischen Verbandes der Landwirtschafts-, Lebensmittel- und Tourismusgewerkschaften (EFFAT), Enrico Somaglia. „Es basiert auf Billigpreisen für Fleisch und der Ausbeutung von Arbeitskraft.“

Rinder werden in einem Lkw transportiert
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Auch der Tierschutz bleibt oft auf der Strecke

Wenn die riesigen Betriebe sich ihre Margen nicht über den Verkauf ihrer Produkte holen könnten, dann täten sie es eben über die Bezahlung ihrer Arbeitskräfte, sagte gegenüber der britischen Zeitung Serife Erol, Lehrbeauftragte an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität (RUB) im deutschen Bochum. Die Preise werden in der Fleischindustrie auch im Einkauf und beim Transport gedrückt. Auf der Strecke bleibt damit auch der Tierschutz.

Das ganze Register an Sozialdumping

Es gab mittlerweile – siehe Deutschland – Verbesserungen, aber auch mitten in der EU sind ungeregelte Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden, Scheinselbständigkeit immer noch gang und gäbe, Krankengeld gebe es oft keines. Oft beherrschten die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter die Landessprache schlecht oder gar nicht und könnten sich derart auch nicht über ihre Rechte erkundigen bzw. verstünden Dienstverträge nicht.

„Sie können dich sofort hinauswerfen und du kannst alles verlieren“, sagte ein rumänischer Arbeiter in den Niederlanden der britischen Tageszeitung. In den Niederlanden handle es sich bei den Beschäftigten in den Betrieben bis zu 90 Prozent um Migranten mit prekären Arbeitsverträgen.

Eine „Zweiklassengesellschaft“

Es gebe, speziell auch in Großbritannien, zu wenige Arbeitskräfte für die Branche. Viele seien während der Coronavirus-Pandemie in ihre Heimatländer in Osteuropa zurückgekehrt und nicht mehr wiedergekommen. Nach dem „Brexit“ haben die Briten außerdem noch spezifische Probleme, siehe aktuell die Treibstoffkrise wegen des akuten Mangels an Lkw-Fahrern aus EU-Ländern. Anstellungen etwa über ausländische Arbeitsagenturen würden künftig noch häufiger werden, heißt es von Gewerkschaften. Einheimische wollten schlichtweg nicht in Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetrieben arbeiten.

Mittlerweile sind die Arbeitskräfte, die die gewöhnlich monotone, schwere Arbeit unter hohem Zeitdruck in Schlachthöfen und Zerlegebetrieben verrichten, oft andere als noch vor einigen Jahren. Der „Guardian“ verweist auf die EU-(Ost-)Erweiterung 2004, nach der viele Menschen etwa aus Ungarn, Polen, Rumänien, Lettland und Litauen auf der Suche nach Arbeit nach Westeuropa gingen. Das Prinzip selber Lohn für selbe Arbeit galt überwiegend nicht, Lohn und Sozialstandards waren mitunter eher denen in den Herkunftsländern angepasst – Stichwort: „Zweiklassengesellschaft“ –, längst nicht nur in der Fleischindustrie.

Schwach und schwächer

Dann, mit steigendem Lebensstandard und besseren Ausbildungsniveaus in den Ländern Zentral- und Osteuropas (CEE) kamen die Arbeitskräfte von dort nicht mehr bzw. suchten sie sich bessere Jobs. Heute kämen die Arbeiterinnen und Arbeiter fast von überall auf der Welt, aus der Ukraine, Georgien, Belarus, Kasachstan, Armenien, Vietnam, den Philippinen, afrikanischen Ländern, Indien, sogar Sri Lanka, Nepal und China.

Aus Rumänien etwa kämen heute die Arbeitsagenturen. Nora Labo, die sich für die irische Gewerkschaft Independent Workers Union (IWU) schon mehrfach öffentlich zu den Missständen geäußert hat, brachte es gegenüber dem „Guardian“ so auf den Punkt: In Rumänien würden heute Menschen aus Nepal so ausgebeutet, wie Rumäninnen und Rumänen es in anderen Ländern (in Westeuropa) würden – eine eigene Art von Hierarchie in der Arbeitsmigration.

Geradezu abenteuerliche Konstruktionen

In der Branche seien Visa häufig an die Jobs, die die Arbeitsmigranten bekommen, gekoppelt. Verlieren sie diese, stünden sie plötzlich als illegale Einwanderer da. Vertragskonstruktionen sind abenteuerlich: Im Vorjahr hatte Labo von Fällen berichtet, wo etwa in Deutschland rumänische Staatsbürger als Selbständige mit Firmensitz in Polen in Betrieben arbeiteten. Damals berichtete die „Irish Times“. Heute berichten Betroffene wie „Margot“ aus Rumänien, beschäftigt in einem namentlich nicht genannten Großbetrieb in den Niederlanden, dem „Guardian“ noch immer von unglaublichen Zuständen.

So richtig zuständig sieht sich offenbar niemand. Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, wurde in der britischen Tageszeitung mit den Worten zitiert, das EU-Recht sei klar, alle Arbeitskräfte müssten dieselben Rechte habe, die nationalen Behörden das sicherstellen. Vom Branchenverband Europäische Vieh- und Fleischhandelsunion (UECBV), der über 20.000 Betriebe vertrete, habe es geheißen, man sei nicht für Arbeitsbedingungen zuständig, diese seien Sache der Unternehmen und der Behörden. Aber: „Missbrauch jeglicher Art wird nicht toleriert.“

Global hat die Fleischindustrie enorme Dimensionen. Die den deutschen Grünen nahe Heinrich-Böll-Stiftung ist in ihrem „Fleischatlas“ für 2021 nicht nur der Frage nachgegangen „Wer schlachtet in Europa?“, sondern hat darin auch Zahlen zu den weltweiten Größenordnungen geliefert. Die zehn größten Unternehmen kommen aus Brasilien, den USA, China, Japan, aber auch Ländern der EU.

Schlagzeilen am Rand der Coronavirus-Krise

Das weltweit größte Schlacht- und Fleischverarbeitungsunternehmen, die brasilianische JBS S.A. mit einem Jahresüberschuss von umgerechnet rund 13,5 Mrd. Euro und einem Nettogewinn von etwa 700 Mio. Euro im Vorjahr, betreibt Hunderte Niederlassungen weltweit, schlachtet laut der deutschen Stiftung täglich bis zu 115.000 Schweine, 75.000 Rinder, 16.000 Lämmer und 14 Mio. Hühner und anderes Geflügel.

Schweine am Schlachthof
ORF.at/Roland Winkler
Riesige Betriebe schlachten Zehntausende Tiere pro Tag

Tyson Foods aus den USA, dort zugleich laut eigenen Angaben der größte Lebensmittelproduzent, bringt es auf knapp 22.000 Rinder, 70.000 Schweine und 7,8 Mio. Hühner pro Tag. In Europa heißen die größten Unternehmen der Branche etwa Danish Crown (Dänemark), Groupe Bigard (Frankreich), Tönnies und Westfleisch (Deutschland). Der „Guardian“ spricht keines der Unternehmen konkret an. Namentlich machen sie generell kaum Schlagzeilen.

Eine Ausnahme war im letzten Jahr die deutsche Tönnies Holding, allerdings erst wegen unzähliger Infektionen mit dem Coronavirus in der Belegschaft, Werksschließung und Lockdown inklusive. Später kam auch das Thema Arbeitsbedingungen in der Branche insgesamt zur Sprache. Die EFFAT nahm sich des Themas an und berichtete schließlich über das ganze Register an Vorwürfen. Die wurden stets zurückgewiesen.