Bild zeigt eine Gruppe Migranten an der polnisch belarussischen Grenze.
Reuters/Agnieszka Sadowska
Polen vs. Belarus

Für die EU eine doppelte Herausforderung

Seit Wochen spitzt sich die Lage an der EU-Außengrenze zu Belarus zu, mehrere Geflüchtete sind bereits gestorben. Dass ein staatlicher Akteur gleichsam als Schlepper handelt, sei „ein neues Phänomen“, so die EU-Kommission am Mittwoch. Brüssel will nun den Druck erhöhen, hadert aber in Polen selbst mit den Grenzen des Machbaren.

An der Grenze zwischen Polen und Belarus, einer EU-Außengrenze, patrouillieren rund 4.000 Grenzschützer, 2.500 Soldaten und 600 Polizeikräfte. In den Wäldern nahe der Grenze gibt es Checkpoints, an einem drei Kilometer breiten Streifen wurde außerdem der Ausnahmezustand verhängt. Er soll nun um weitere zwei Monate verlängert werden. In diesen Bereich dürfen weder Journalistinnen und Journalisten noch Hilfsorganisationen.

Der Grund ist das stete Ansteigen der Zahlen jener Menschen, die an der Grenze zwischen Polen und Litauen und Belarus aufgegriffen werden. Das belarussische Regime unter Alexander Lukaschenko schleust Geflüchtete aus dem Nahen Osten gezielt zur Grenze der EU, um diese zu destabilisieren, so der Vorwurf aus Warschau und Brüssel. Lukaschenko hatte Ende Mai angekündigt, dass Minsk Geflüchtete nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern werde, es war eine Reaktion auf verschärfte Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik.

„Neues Phänomen“ von Belarus

Die Menschen würden durch Belarus in eine Falle gelockt, sagte am Mittwoch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in Brüssel. Man hole sie nach Belarus, bringe sie dann zur Grenze, wo sie weder vor noch zurück könnten. Die Menschen würden durch den Staat Belarus als Werkzeuge für politische Zwecke missbraucht, sagte Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas. Das sei „ein neues Phänomen“, mit dem die EU – neben dem bekannten, durch organisierte Gruppen durchgeführten Menschenschmuggel – nun auch zu kämpfen habe.

Die Kommission will nun mit einem Aktionsplan gegen beide Formen des Menschenschmuggels vorgehen. Einerseits wolle man den Kampf gegen schleusende Gruppen intensivieren und auch Maßnahmen gegen Schwarzarbeit von Migrantinnen und Migranten ergreifen. Andererseits werde man das erst voriges Jahr in Kraft getretene Abkommen über Visaerleichterungen mit Belarus in Teilen wieder aussetzen. Damit wolle man aber nicht Bürgerinnen und Bürger treffen, die Maßnahmen sollen Mitgliedern offizieller Delegationen, der nationalen und der regionalen Regierungen und Parlamente sowie belarussischer Gerichte gelten.

Belarus selbst stehe gar nicht unter erhöhtem Migrationsdruck, so Johansson. Lukaschenko trachte mit seiner Flüchtlingsstrategie danach, die EU zu destabilisieren. „Wir sehen gerade einen verzweifelten Lukaschenko“, sagte sie.

Einigung auf Migrationspakt nicht abzusehen

Die Lösung wäre eine Einigung auf den gemeinsamen Asyl- und Migrationspakt, so die Ansicht der Kommission. Doch die ist weit entfernt. Vor fast genau einem Jahr legte man in Brüssel nach den Zerwürfnissen der großen Migrationsbewegung 2015 einen entsprechenden Vorschlag auf den Tisch. Doch Fortschritte hin zu einer Einigung wurden seither kaum erzielt, zu unvereinbar sind die Ansichten der Mitgliedsländer. Ein Streitpunkt ist unter anderem die EU-interne Verteilung Geflüchteter, die auch von Österreich abgelehnt wird.

Eine Einigung scheint also weiterhin in Ferne, die Alleingänge von Mitgliedsländern sind hingegen auf der Tagesordnung. Polen setzt im Umgang mit den Geflüchteten an der Grenze auf Härte. Aufgenommen wird kaum jemand, der Grenzschutz warnt per SMS vor dem Versuch einer illegalen Einreise. „Die polnische Grenze ist abgeriegelt. Belarussische Stellen haben euch Lügen erzählt. Geht zurück nach Minsk!“, heißt es in der Kurznachricht auf Englisch, wie Innenminister Marius Kaminski per Twitter mitteilte. Die SMS würden alle erhalten, deren Handys sich im Grenzgebiet in Reichweite des polnischen Mobilfunks befänden.

Amnesty: Beweise für Pushbacks

Für die Pushbacks legte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International am Donnerstag Beweise aus eigenen digitalen Recherchen vor. Polen verstoße damit gegen Menschenrechte, die EU müsse unverzüglich reagieren, forderte Amnesty. 32 afghanische Asylsuchende würden seit mehr als vier Wochen an der Grenze zwischen Polen und Belarus festsitzen, ohne Zugang zu Nahrung, Trinkwasser oder Medikamenten und ohne feste Unterkunft.

Anhand von Satellitenbildern, Fotos zur Vermessung des Gebiets und einer 3-D-Rekonstruktion konnte Amnesty Ende August die Position der Gruppe ermitteln, sehen, dass diese von polnischen Grenzschützern umstellt war und feststellen, dass sie sich daraufhin über Nacht von Polen nach Belarus bewegte – „was offenbar eine rechtswidrige Rückführung war“, schlussfolgerte die Menschenrechtsorganisation.

Eine Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Ende August, den Hilfesuchenden „angemessene Nahrung, Wasser, Kleidung, medizinische Versorgung und, wenn möglich, eine vorübergehende Unterkunft“ zur Verfügung zu stellen, habe Polen bisher ignoriert, so Amnesty. Die Menschenrechtsorganisation bemängelte zudem, dass es Hilfsorganisationen aufgrund des verhängten „Ausnahmezustandes“ derzeit nicht erlaubt ist, die Grenzregion zu betreten.

Funkstille zwischen Brüssel und Warschau

Amnesty forderte von der Regierung in Warschau die Aufhebung des „unrechtmäßigen“ Ausnahmezustands und die Einstellung der Zurückweisungen, außerdem die angemessene Versorgung der Asylsuchenden. Polen verstoße gerade grob gegen die Rechte dieser Menschen. „Die EU muss zügig und entschlossen reagieren, um diese schweren Verstöße gegen internationales und EU-Recht beim Namen zu nennen“, so Geddie.

Um die Lage besser einschätzen zu können, will sich Johansson mit dem polnischen Innenminister treffen. Doch zwischen Brüssel und Warschau herrscht wegen des Streits über Rechtsstaatlichkeitsvergehen Funkstille. Seit Monaten gibt es wegen Verstößen gegen europäisches Recht, wegen Diskriminierung von Minderheiten und wegen Polens Druck auf Justiz und Medien Konflikte. Zuletzt beantragte die Kommission auch Finanzstrafen gegen Polen beim Europäischen Gerichtshof.

Laut dpa bemühte sich die Innenkommissarin zuletzt tagelang vergeblich um ein Gespräch. Nun ist ein Treffen am Donnerstag geplant. Brüssel sähe auch gerne die Grenzschutzagentur Frontex dort. Ein solcher Einsatz aber müsste von Polens Regierung angefordert werden. Diese sieht aber keinen Anlass, prüfende Augen an die Grenze zu beordern.