Schriftsteller Abdulrazak Gurnah
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Abdulrazak Gurnah

Literaturnobelpreis mit Signalwirkung

Der Autor Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus Sansibar erhält überraschend den Literaturnobelpreis 2021. Diese Entscheidung gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt. Die Entscheidung für einen nicht westlichen Autor wurde schon länger erwartet: Mit Gurnahs Wahl löst die Akademie das schon 2018 gemachte Versprechen ein, den Blick wieder über den eurozentristischen Tellerrand zu heben.

Gurnah erhält den Preis „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“, wie der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Bekanntgabe sagte.

Zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten hat Gurnah bisher veröffentlicht. Der Autor, der 1968 vor dem realsozialistischen Regime Tansanias nach England floh, thematisiert in seinem Werk immer wieder die Disruptionen von Fluchterfahrungen. Obwohl Suaheli seine Muttersprache ist, schreibt er seine Bücher auf Englisch. Auch andere Sprachen wie Deutsch hätten einen Einfluss auf sein Werk, sagte der Vorsitzende des Nobelkomitees der Akademie, Anders Olsson.

Gurnahs vierter Roman „Paradise“ von 1994 (in Deutschland erschienen 1998 als „Das verlorene Paradies“) brachte ihm den Durchbruch als Schriftsteller. Bis vor seiner kürzlichen Pensionierung war er 36 Jahre als Literaturprofessor an der Universität von Kent tätig. Bei der Bekanntgabe des Nobelpreises wurde Gurnah als „einer der wichtigsten Vertreter der postkolonialen Literatur“ bezeichnet.

ORF-Kulturexpertin zum Literaturnobelpreis

Katja Gasser aus der Kulturredaktion des ORF spricht über den überraschenden Sieg des tansanischen Autors Abdulrazak Gurnah beim diesjährigen Literaturnobelpreis und erklärt die Besonderheiten seiner Werke.

Poesie und „knallharter“ Realismus

Auf Deutsch erschienen von Gurnah neben „Das verlorene Paradies“ die Romane „Donnernde Stille“ (2000), „Ferne Gestade“ (2002) und „Schwarz auf Weiß“ (2004). Zuletzt veröffentlichte der Berlin Verlag 2006 seinen Roman „Die Abtrünnigen“, der, angesiedelt an der ostafrikanischen Küste, von der Liebesgeschichte zwischen einem englischen Orientalisten und einer indischstämmigen Einheimischen erzählt und sich so mit Fragen der Zugehörigkeit und von gesellschaftlichen Ausschlüssen auseinandersetzt.

„Abdulrazak Gurnah schreibt keine kitschigen Schmöker, sondern ebenso poetische wie knallhart realistische Romane“, schrieb die deutsche „Welt“ damals über das Buch und zeigte sich beeindruckt von der „Kraft und Eindringlichkeit“, mit der Gurnah von Menschen erzähle, die gegen ihr Schicksal aufbegehren. Der dpa zufolge sind alle auf Deutsch übersetzten Bücher derzeit nicht lieferbar.

Nobelpreis fast immer an westliche Autoren

Mit der Entscheidung für Gurnah hat die Akademie heuer wahrgemacht, was sie schon zuvor angekündigt hatte, nämlich den Blick stärker auf „die Welt“ zu richten: Eine Konstante des Literaturnobelpreises in seiner 120 Jahre dauernden Geschichte war, dass die Auszeichnung fast immer an westliche – und vorrangig an europäische – Autorinnen und Autoren ging.

Bücher von Abdulrazak Gurnah
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Von Gurnah sind bisher zehn Romane erschienen, darunter sein Durchbruchswerk „Paradise“, das 1998 auch auf Deutsch erschien

Nur fünf der insgesamt 117 Preisträger kamen bisher aus Mittel- und Lateinamerika, fünf aus Asien und vier aus Afrika. Die erste afrikanische Auszeichnung ging erst 1986 an den Nigerianer Wole Soyninka, kurz nachdem sich die Jury öffentlich auf einen internationaleren Fokus verständigt hatte.

„Brillant und wunderbar“

Im Gespräch mit Reuters zeigte sich Gurnah am Donnerstag begeistert über die Zuerkennung des Literaturnobelpreises: „Ich denke, es ist einfach brillant und wunderbar“, so Gurnah. Er fühle sich geehrt, eine Auszeichnung zu erhalten, die an so viele anerkannte Schriftsteller verliehen wurde, und sei immer noch dabei, die Information zu verarbeiten. „Es war so eine komplette Überraschung, dass ich darauf warten musste, bis es verkündet wurde, um es wirklich zu glauben.“ Danach gefragt, ob er nun Champagner trinke oder vor Freude tanze, habe er nur lachend Nein gesagt.

Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah

Der Autor Abdulrazak Gurnah aus Sansibar erhält überraschend den Literaturnobelpreis 2021. Die Schwedische Akadmie, der oft ein eurozentrischer Blick auf die Weltliteratur vorgeworfen wurde, hat damit ein deutliches Zeichen gesetzt.

„Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich das gehört habe“, freute sich auch der Wiener Schriftsteller und Übersetzer Helmuth A. Niederle gegenüber der apa. Niederle, der „Die donnernde Stille“ übersetzte, lobte das „fein ziseliertes Bild“, das Gurnah von den zwischenmenschlichen Begegnungen im Kolonialismus entwerfe. Dass Gurnahs Bücher seit einigen Jahren nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden, bedauere er. Als Grund sei ihm aus der Verlagswelt vermittelt worden: „Es gibt eben Namen, die im deutschen Sprachraum nicht funktionieren“ – was sich nun jedenfalls ändern dürfte.

Ernaux und Thiong’o als Favoriten der Buchmacher

Für den heurigen Literaturnobelpreis galten zuletzt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux und der kenianische Autor Ngugi wa Thiong’o als Favoriten der Buchmacher. Auch dem japanischen Autor Haruki Murakami, der Russin Ljudmila Ulitzkaja sowie der Kanadierin Margaret Atwood und Maryse Conde aus dem französischen Überseegebiet Guadeloupe waren gute Chancen ausgerechnet worden.

Mit der Wahl eines Außenseiters setzt sich der Kurs des Vorjahres fort: Mit der US-Poetin Louise Glück wurde da ebenfalls eine nur wenig bekannte Literatin ausgezeichnet. Glück erhielt den Literaturnobelpreis „für ihre unverkennbare poetische Stimme“, mit der sie „mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell“ mache, wie es 2020 bei der Verleihung hieß.

Turbulenzen in den Vorjahren

In den Jahren zuvor hatte es heftige Turbulenzen rund um den Preis gegeben: 2019 wurde die Auszeichnung von Peter Handke höchst kontroversiell diskutiert, 2018 setzte das Komitee die Vergabe aus, nachdem es zum großen Skandal rund um die sexuellen Übergriffe eines Jurymitglieds gekommen war.

Verliehen wird die mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 987.000 Euro) dotierte Auszeichnung mit den übrigen Nobelpreisen am 10. Dezember. Das Datum ist als Todestag von Alfred Nobel fix gesetzt. Pandemiebedingt wird der Preis neuerlich in den Heimatländern der Preisträgerinnen und Preisträger und nicht bei einer Zeremonie in Stockholm übergeben.