Murathan Muslu
Constantin
„Hinterland“

Serienkillerjagd im düsteren 20er-Jahre-Wien

Für seinen historischen Thriller „Hinterland“ hat Stefan Ruzowitzky in Locarno den Publikumspreis erhalten. Inspiriert vom expressionistischen Stummfilm lädt Ruzowitzky in ein visuell gewagtes Setting: In einem artifiziellen Wien des Jahres 1920 treibt ein mysteriöser Ritualmörder sein Unwesen. Seit Freitag ist der Film im Kino zu sehen.

Verzerrte Großstadtsilhouetten sind es, durch die der Mann wankt, es gibt kaum einen rechten Winkel. Dennoch sieht die Straßenlandschaft irgendwie vertraut aus. Da, ein Schild: Minoritenplatz. Tatsächlich, das hier ist Wien, und es ist wiedererkennbar. Doch die Stadt, in der „Hinterland“ spielt, ist ein beklemmendes Alptraumwien, eines, in dem keine Linie senkrecht ist. Wie in einem expressionistischen Film ist alles verschoben, in eine fremde Parallelrealität, in der die schlimmsten Mordfantasien wahr werden können.

Die jüngste Regiearbeit von Oscar-Preisträger Ruzowitzky ist ein Wien-Thriller, wie es noch keinen gegeben hat. Inszeniert fast vollständig vor Computerkulissen, wurde dieser von Ruzowitzky mit einem glaubwürdigen historischen Rückgrat ausgestattet: „Hinterland“ handelt von einem Mann, der vier Jahre Weltkrieg und zwei Jahre russischer Gefangenschaft hinter sich hat. 1914 zog Peter Perg (gespielt von Murathan Muslu) voll Kriegsbegeisterung für Kaiser und Vaterland los, ließ seine Frau Anna und seine neugeborene Tochter in Wien zurück und kannte nur noch Kameradschaft, Ehre und Loyalität.

Murathan Muslu
Constantin
Alles verschoben, was wir kannten: Perg (Muslu) erkennt seine Stadt kaum wieder

Nun kehrt Perg zwei Jahre nach Kriegsende in eine Stadt zurück, die ihn nicht mehr will, in ein Leben, das ihm fremd geworden ist. Ob ihn seine Frau noch liebt? Seine Tochter überhaupt erkennen könnte? So weit kommt Perg gar nicht, denn Anna ist vor dem Hunger aus dem Großstadtmoloch aufs Land geflüchtet. Noch bevor Perg ihr nachreisen kann, werden ihm die Papiere gestohlen, er wird von der Polizei verhaftet und seinem alten Freund, dem Kriminalkommissar Victor Renner (Max Limpach), vorgeführt.

Flintenweiber und Sozialisten

Früher einmal war auch Perg Kriminalkommissar, inzwischen ist Victor nachgerückt. Doch jetzt ist Pergs Kombinationsgabe wieder gebraucht. Erst letzte Nacht wurde eine grausam verstümmelte Leiche gefunden. Es ist einer von Pergs Kameraden, der offenbar rituell zu Tode gequält wurde, wie die Pathologin Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries) am Tatort feststellt. Moment, eine Frau Doktor im Wien des Jahres 1920? „Als die Männer in den Krieg gezogen sind, hat man ihnen mich Flintenweib vor die Nase gesetzt“, erläutert Dr. Körner trocken, eine etwas stereotype starke Frauenfigur, die Kette raucht und mit ruhiger Hand Leichen untersucht.

Das Wien, in das der Kriegsheimkehrer Perg zurückgekommen ist, ist politisch labil: Die Sozialisten demonstrieren für Arbeiterinnenrechte, die einst kaisertreue Polizei gibt sich vordergründig republikanisch und ist in Wahrheit korrupt bis in die Knochen. In Kaffeehäusern diskutieren die Kommunisten, die Sozialisten, die Anarchisten, „irgendwelche ’-isten’ sind es immer“, erklärt jemand.

Aus der Walzertraum

Von den Veteranen, die zermürbt von Front und Gefangenschaft nach Hause getaumelt sind – körperlich versehrt oder, wie Perg sagt, „mit einem Dachschaden, wir alle haben einen Dachschaden“ –, will von den Daheimgebliebenen niemand etwas wissen. Die meisten sind im „Roten Haus“ untergekommen, wo es wenigstens Armenausspeisung und eine Matratze im Schlafsaal gibt. Nur die Nazis, „das sind die Einzigen, die uns verstehen“, raunt einer hoffnungsvoll.

Liv Lisa Fries
Constantin
Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries) hat nicht nur Augen für ihre lebenden und toten Patienten

Doch noch haben die zwanziger Jahre erst begonnen. Es ist eine Zeit, in der vieles zum ersten Mal erlaubt ist. Für jene, die Front und Gefangenschaft überlebt haben, ist Wien aber besonders gefährlich: Nicht nur jeder zweite Mörder ist Kriegsheimkehrer, sondern auch zwei von drei Mordopfern. „Es ist wie in einer Zeitmaschine“, sagt der Kommissar zur Pathologin, mit der er einen aufregenden Abend verbringt. Vor dem Krieg gab es nur Walzer und Operette, nach dem Krieg wippt man zu Jazz.

Wie auf einer Theaterbühne

„Hinterland“ ist ein enormes Prestigeprojekt, fast komplett vor Bluescreens gedreht, mit einer im Computer erfundenen Kulisse, bei der Robert Wienes „Kabinett des Dr. Caligari“ aus dem Jahr 1920 visuell Pate gestanden hat. Die einzigartige Stimmung zwischen Verzweiflung und Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg, die sich in vielen Produktionen der jüngeren Zeit wiederfindet, etwa in der deutschen Serie „Babylon Berlin“ und der britischen Serie „Peaky Blinders“, schildert Ruzowitzky vor einem expressionistisch verschobenen Hintergrund.

Diese anfangs irritierende Kulisse spiegelt den desolaten Geisteszustand Pergs überdeutlich wider und prägt den gesamten Tonfall des Films. Es dauert eine Weile hinzunehmen, dass hier eben wie auf einer Theaterbühne gespielt wird. Nach einer Weile wird die deformierte Wirklichkeit jedoch fast selbstverständlich.

Murathan Muslu und Liv Lisa Fries
Constantin
Flanieren am Abgrund: Perg (Muslu) und Dr. Kröner (Fries) unterwegs durch Wien

Autoritätsglaube und Kriegshurra

Im Gegensatz zur deutschen Weimarer Republik wurde die österreichische Zeit der Ersten Republik in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise selten im Kino behandelt, so sehr hat die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den NS-Verbrechen alles überschattet.

Dabei ist gerade die Phase nach Ende des Ersten Weltkriegs eine faszinierende Zeit. Wer Berichte aus der Zeit kennt, wird hier wahrscheinlich Motive wiedererkennen: die Kaisertreue, den unbedingten Autoritätsglauben und das Gefühl der Hilflosigkeit im bedeutungslos gewordenen Rumpfösterreich, all das, was eineinhalb Jahrzehnte später durch die Begeisterung für die Nationalsozialisten ersetzt wird.

Wo bleibt die Zärtlichkeit?

Muslu spielt Perg als still leidenden Hünen mit glühenden Augen und Sehnsucht im Herzen, „Babylon Berlin“-Star Fries bringt als patente Pathologin Dr. Körner frischen Wind in sein dunkelgraues Leben. Am gefährdetsten sind hier Pergs Kameraden, die nach und nach zu Opfern des Mörders oder ihrer eigenen Verzweiflung werden. Im Gewand eines historischen Serienkillerkrimis mit David-Fincher-Anmutung handelt „Hinterland“ letztlich davon, wie toxische Männlichkeit auch den Männern selbst schadet.

Ein schwuler Künstler, dem Perg bei seinen Ermittlungen begegnet, spricht schließlich sogar direkt aus, dass Krieg letztlich nur ein Resultat unterdrückter männlicher Zärtlichkeit sei. Dieser Schluss funktioniert zwar nicht als umfassendes Erklärmodell für das Verheizen einer ganzen europäischen Generation junger Männer als billiges Kriegsmaterial. Für den Thriller „Hinterland“, der mit einem ganzen Paket an historischen und politischen Querverweisen und erzählenswerten Nebenfiguren daherkommt, ist er jedoch der Schlüsselsatz – und das darf vorerst genügen. Das Duo Kommissar Perg und Dr. Kröner empfiehlt sich ohnehin für weitere Ermittlungen.