Ansicht der Ausstellung „Hungry for Time“.
Iris Ranzinger
Bildende

Eine Klassiksammlung hängt gegen den Strich

Vier Jahre war die Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste ausquartiert. Nun ist das Museum wieder in das renovierte Stammhaus auf dem Wiener Schillerplatz zurückgekehrt. Für die Neupräsentation der Sammlung, deren Hauptwerk Hieronymus Boschs „Weltgerichtstriptychon“ darstellt, wurde das indische Raqs Media Collective eingeladen. Das Künstlertrio bürstet die Kollektion in der Schau „Hungry for Time“ sinnlich, assoziativ und oft kryptisch gegen den Strich.

Eine Fliege surrt durch das Museum. Mal sitzt sie auf der roten Tapete, dann wieder krabbelt sie auf dem Kleid einer Madonna oder einem Büffet voller Köstlichkeiten herum. In der Malereigeschichte steht das Flügeltier für Memento Mori, also die Erinnerung an die Vergänglichkeit. Die indische Künstlergruppe Raqs Media Collective hat ein Foto des Insekts in X-Large an den Beginn seiner Sammlungsschau „Hungry for Time“ in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste gesetzt. Wie die Fliege lassen sich die zeitgenössischen Künstler auf gewissen Exponaten nieder und sprechen das Verdrängte hinter der augenscheinlichen Pracht an.

Das Inventar der Gemäldegalerie umfasst 1.600 Objekte, darunter Gemälde von Tizian, Botticelli, Rubens und Rembrandt. Diese Altmeister sowie das Sammlungshighlight, der „Weltgerichtstriptychon“ von Hieronymus Bosch, waren in den letzten Jahren im Theatermuseum zu Gast.

Das Raqs Media Collective mit Rektor Johan F. Hartle in der Ausstellung Hungry for Time.
Iris Ranzinger
Das Documenta-erprobte Raqs Media Collective (hier mit Akademie-Rektor Hartle) bürstete die Bestände der Gemäldegalerie gegen den Strich

Mit der Fertigstellung der um 70 Millionen Euro sanierten und modernisierten Akademie der bildenden Künste kehrte auch die Gemäldegalerie an ihren Stammsitz zurück. Ab Jänner 2022 wird die Kunsthistorikerin Sabine Folie, die zuletzt dem Valie Export Center vorstand, das Museum in dem Bau von Architekt Theophil Hansen leiten.

Erbe des Kolonialismus

Von Akademie-Rektor Johan Hartle stammt die Idee, für die Neueröffnung das Raqs Media Collective einzuladen. „Europäische Sammlungen müssen sich anderen Blicken öffnen“, betonte Hartle, der am 9. und 10. Oktober zum Housewarming lädt und auch einen Talk mit den Kuratoren hält. Für die indische Künstlergruppe ist es nicht damit getan, alte und neue Kunst zusammenzubringen. Sie möchten vielmehr einen kritischen Blick auf den Eurozentrismus und das Erbe des Kolonialismus werfen, die in altmeisterlichen Werken und deren kunsthistorischer Rahmung stecken.

Hieronymus Bosch’s Werk „Weltgerichts-Triptychon“ (ca. 1500) und Egon Schiele’s Werk „Studie zu einem Porträt des Malers Albert Paris Gütersloh“ (1918).
Gemäldegalerie & Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien
Sammlungshighlights in ungewöhnlicher Umgebung: Bosch „Weltgerichtstriptychon“ (um 1490–1505) und Egon Schieles „Studie zu einem Porträt des Malers Albert Paris Gütersloh“ (1918)

Komische Vorleser

Das Raqs Media Collective wurde vor knapp 30 Jahren von der Künstlerin Monica Narula und ihren Kollegen Jeebesh Bagchi und Shuddhabrata Sengupta gegründet. International bekannt wurden sie 2002 auf der Kunstschau Documenta 11. Ihre Arbeit umfasst eigene Kunstwerke ebenso wie kuratierte Ausstellungen und Publikationen.

Mit dem Rüstzeug der kritischen „de-colonial theory“ und einer Reihe von zeitgenössischen Positionen nehmen sie sich nun die Gemäldegalerie zur Brust. Der Ausstellungsparcours umfasst elf „Szenen“. Nichts wurde hier aus Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett oder Glyptothek nur aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten ausgewählt, alles hat eine Aussage, eine Stoßrichtung oder soll durch die Konfrontation mit anderen Exponaten neue Facetten offenbaren. Schon der „Prolog“ sieht anders aus als jede bisherige Schau der Gemäldegalerie.

Ansicht der Ausstellung „Hungry for Time“.
Iris Ranzinger
Ausstellungsansicht „Hungry for Time“ in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste

Dort treffen die „Wilden Katzen“ des flämischen Malers Jan Fyt von 1630 auf ein zeitgenössisches Nashorn von Raqs Media Collective, das sich laut Aufschrift dazu anschickt, die verkrustete Sammlung aufzumischen. Das Ölbild „Der komische Vorleser in einer Bauernschenke“ von Adriaen van Ostade wurde durch eine kuratorische Intervention umbetitelt und heißt jetzt auf dem Werkschild dank gelbem Pickerl „Vorleser (kämpft mit der Handlung)“. Zum Großteil der Exponate fehlt jedoch jedwede Information, was auf die Dauer frustrierend ist.

Geschlossenes Highlight

Wer nun hofft, er würde nach dem Einleitungskapitel an der Hand genommen und „de-kolonial“ aufgeklärt, der ist bei dem indischen Trio fehl am Platz. Ihre Schau ist als assoziativer Essay konzipiert, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Leider wird damit auch Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. Wer etwa Dayanita Singhs Fotoserie von 2016 sieht, denkt bei den Bündeln in rot gefärbten Leinen an blutige Kleidung, aber sicher nicht an eine Beschäftigung mit indischen Archiven, in denen solche „Verpackungen“ normal sind.

Akademiegebäude am Schillerplatz, Ansicht der Aula
Helmut Wimmer
Nach vierjähriger Renovierung wieder im vollen Glanz: Der Theophil-Hansenbau am Schillerplatz (hier in der Innenansicht der Aula)

Auch das Booklet zur Schau gibt nur wenig Auskunft über den Hintergrund und die Zusammenhänge der vielen Exponate. Direkt adressiert wird das Thema Kolonialismus am ehesten durch ein Porträt des Sklaven und späteren Höflings Angelo Soliman, von dem auch die Totenmaske zu sehen ist, oder anhand der Installation, die sich dem Prater und den dortigen Weltausstellungen samt „Afrika-Dorf“ widmet.

Ausstellungshinweis

„Hungry for Time. Eine Einladung zu epistemischem Ungehorsam“, kuratiert von Raqs Media Collective in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste. 9. Oktober bis 31. Jänner 2022. Täglich außer Montag 10.00 bis 18.00 Uhr.

Beide Exkurse haben mit der Gemäldegalerie aber wenig bis nichts zu tun. Im letzten Saal steht schließlich auf gewohnten Platz wieder Boschs „Weltgerichtstriptychon“. Allerdings sind, oh Schock, die Flügel des Altarbildes fast geschlossen und zeigen so anstatt der höllischen Kreaturen nur ihre Wochentagsheiligen auf den Außenseiten.

Bosch, der Aal und Freud

Zu Füßen des Heiligen Jakob krümmt sich ein Wurm, den hat das Raqs Media Collective als Aal entlarvt. Dazu erzählen sie die Geschichte, dass der junge Sigmund Freud einst in Triest die Fortpflanzungsorgane dieses phallusartigen Fisches erforschen wollte und daran scheiterte. Am Ende der Schau wird also auch die Gender-Thematik hereingeholt. Die Gegenüberstellung von Tizians Gewaltszene „Tarquinius und Lucretia“ aus dem 16. Jahrhundert und Nilbar Güres’ Collage „Self-Defloration“ von 2006 helfen, noch diesen Punkt auf der kritischen To-do-Liste abzuhaken.