Titelseiten der Presse, Kronen Zeitung, Kurier, Der Standard und Österreich am Tag nach dem Rückzug von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP)
ORF.at
Einhelliger Tenor

Medien sehen Kurz als „Schattenkanzler“

Die Rochade als „Notlösung“, ein alternativloser Rückzug, vor allem aber immer wieder das Motiv des „Schattenkanzlers“: Der Rücktritt von Sebastian Kurz (ÖVP) als Bundeskanzler und die Ernennung von Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat in den heimischen Medien einige übereinstimmende Bewertungen nach sich gezogen. Wellen schlug der Rücktritt aber auch in ausländischen Medien.

„Kurz mal weg“ titelte etwa die „Kronen Zeitung“ am Sonntag. Zwar habe sich Kurz mit Kräften gegen den Abschied gewehrt, doch Staatsanwaltschaft, die Grünen und seine Parteifreunde als „Zentrifugalkräfte“ hätten ihm keine andere Möglichkeit als den Rückzug gelassen. Dass es bei diesem bleiben werde, glaubt die „Krone“ aber nicht: Das Ende sei unrühmlich, aber wohl kaum für immer.

Als „Schattenkanzler“ werde Kurz auch in den kommenden Monaten ohnehin überall mitreden, so die „Salzburger Nachrichten“ („SN“) im Kommentar. Kurz’ Rückzug vom Kanzleramt sei eine politische Notwendigkeit für beide Koalitionspartner gewesen. Damit bleibe Kurz nicht nur präsent und mächtig, er habe auch den Verlust der Regierungsmacht verhindert und ein Debakel durch die Abwahl via Misstrauensvotum verhindert. Den Grünen werde Kurz’ andauernde Präsenz zwar nicht gefallen – hätten sie die Rochade aber abgelehnt, wären sie als „Zerstörer der Koalition“ dagestanden.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) verlässt nach seiner Rede die Pressekonferenz
APA/Georg Hochmuth
Kurz nach seinem Rücktritt am Samstag

„Moralische Verderbtheit“

„Sebastian Kurz war nicht mehr haltbar. Nicht einmal für die ÖVP“, urteilte underdessen der „Standard“. Kurz habe angesichts des drohenden Misstrauensvotums und stetig wachsenden Drucks aus den Bundesländern das „Heft des Handelns“ in die Hand genommen. Gleichzeitig sei in der ÖVP-Affäre eine „moralische Verderbtheit“ bei Kurz und seinem engsten Kreis sichtbar geworden. Diese hätten sinnvolle politische Projekte sabotiert und Intrigen gesponnen. Kurz sei nun für viele Menschen nicht mehr tragbar. Trotzdem denke er gar nicht daran, die Fäden aus der Hand zu geben, so der „Standard“ mit Verweis auf die Linientreue von Schallenberg. Mit den Grünen zeichne sich jedenfalls ein angespanntes Verhältnis ab.

Ob Schallenberg die Kraft habe, die Regierung und die ÖVP zusammenzuhalten, werde sich erst weisen, so „Die Presse“. Derzeit sei die Rochade eine „diplomatische Notlösung“. Zudem stelle sich die Frage, ob der Noch-Außenminister als Kanzler ein eigenes Profil entwickeln oder sich „eine Art Putin/Medwedew-Modell“ ergeben werde. Die kommenden Wochen würden zeigen, „ob nicht ein weiterer Rückzug von Kurz die einzige mögliche Option bleibt. Ein Kanzler in Reserve über viele Monate mit einer Art Rückkehrrecht ist realpolitisch schwer vorstellbar.“ Die Entscheidung könne mehr als ein Befehl sein, produktive Regierungsarbeit möglich.

„Falsche Loyalität“ der Landeshauptleute

Ähnlich der Grundtenor in der „Kleinen Zeitung“: Die ÖVP habe „die Schutzpflicht gegenüber der bürgerlichen Selbstachtung und dem Ruf des Landes wahrgenommen, auch gegenüber dem Regierungsprojekt“. Kurz sei als Regierungschef nicht mehr handlungsfähig gewesen, die Landeshauptleute hätten ihre „falsche Loyalität“ überwunden. Auch die Grünen hätten in der „Drosselung des moralischen Überschwangs“ und dem Bekenntnis zur Regierung Vernunft gezeigt. Die Vorwürfe seien jedenfalls solcherart, dass ihr „Substrat das demokratische Gemeinwesen zersetzt“. Kurz bleibe als Klubobmann „stiller Mitregent, wie still, wird sich weisen“, so auch die „Kleine Zeitung“.

Runde der Chefredakteurinnen und Chefredakteure

Mit seinem Rücktritt als Bundeskanzler kommt Sebastian Kurz einer Abwahl zuvor, der Bruch der Regierung ist vorerst abgewendet. Doch wie kann es in der türkis-grünen Koalition längerfristig weitergehen? Hans Bürger diskutiert mit Klaus Herrmann („Kronen Zeitung“), Martina Salomon („Kurier“), Rainer Nowak („Die Presse“), Petra Stuiber („Der Standard“), Eva Linsinger („profil“) und Gerold Riedmann („Vorarlberger Nachrichten“).

Eine „staatstragende Lösung“ ortete der „Kurier“. Indem die ÖVP Kurz aus der Schusslinie nehme, sei eine Fortsetzung der Regierung möglich. Kurz könne als Klubobmann weiterhin „ziemlich stark mitmischen“, die Nominierung von Schallenberg sei ein guter Schachzug: Die Menschen wollten „keine Neuwahlen und liebäugeln sowieso mit Beamtenregierungen“. Die Grünen hätten unterdessen als „selbsternannte Transparenzpartei einen Teilsieg errungen“. Als „entlarvend“ wertete der „Kurier“ das Treffen zwischen SPÖ und FPÖ, mit dem Wille zur Zusammenarbeit signalisiert wurde. Das werde die SPÖ noch bereuen, glaubt die Zeitung.

Pessimistischer bei der Einschätzung der Handlungsfähigkeit der künftigen Regierung gab sich die „Tiroler Tageszeitung“ („TT“): „Ob Kurz’ Auszug aus dem Bundeskanzleramt auch in der Lage ist, für die von allen Seiten geforderte Stabilität zu sorgen, muss schon eher angezweifelt werden. Schließlich bleibt er der Innenpolitik erhalten.“ Wie die „unappetitlichen“ Chatnachrichten zeigen, habe Kurz „alles darauf ausgerichtet, ein System zu etablieren, das ihn selbst ins Bundeskanzleramt und damit an die Spitze des Staates hieven sollte. Ob sich das jetzt tatsächlich ändert?“

Auch international Topthema

Auch international machte die Causa Schlagzeilen. Bereits am Samstag war der Rücktritt in den meisten überregionalen deutschen Medien Topthema. „Kurz-Schluss", hieß es etwa in der Boulevardzeitung „Bild“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ging bereits in die Analyse: „Kurz will die Zügel in der Hand behalten“.

Mediale Reaktionen aus dem Ausland

Die Regierungskrise hat im Ausland Wellen geschlagen. Hier eine Zusammenfassung der Reaktionen.

Von einem „halben Rückzug des Wunderknaben“ sprach auch der „Spiegel“, der sich erneut eingehend den Chats widmete. „Ein Clubchef ist der Rammbock einer Partei. Ein Rücktritt sieht anders aus“, urteilte auch die „Welt“. Schallenberg sei zwar charmant und schlau, habe aber kein eigenes Profil und neige zum Ablesen ihm vorgelegter Positionen. Die Koalition könne mit Kurz als Schattenkanzler weiterbestehen. Thema war der Rücktritt auch in der „Financial Times“, der BBC, im „Guardian“ und in der „New York Times“.