Dunkle Wolke über dem Ballhausplatz
ORF.at/Roland Winkler
ÖVP-Affäre

Koalition gerettet, aber viele Fragen offen

Mit dem Rückzug von Sebastian Kurz (ÖVP), der für Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) auf dem Kanzlersessel Platz macht, ist die Regierungskrise vorerst abgewendet. Doch wie es tatsächlich nun weitergeht, bleibt unklar. Wie sich das Koalitionsklima entwickelt, wird wohl auch davon abhängen, wie Kurz seine neue Rolle als Klubchef ausfüllt. Und jederzeit können die Ermittlungen – oder gar neue Enthüllungen – in der ÖVP-Affäre für neuen Zündstoff sorgen.

Zunächst stellt sich die Frage, wie sich Kurz als Abgeordneter und Klubobmann mit seiner neuen Funktion in die Regierungsarbeit einbringt. Viel Erfahrung als Mandatar hat er nicht. Nach den Nationalratswahlen 2013, 2017 und 2019 war er jeweils kurz – zumindest formal – im Nationalrat. Opposition und Teile der Kommentatoren rechnen damit, dass er als „Schattenkanzler“ weiter die Fäden ziehen wird.

Das sagten auch Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle und Politikberater Thomas Hofer im APA-Gespräch. Kurz werde Neo-Kanzler Schallenberg sicher nicht jeden Tag overrulen oder bloßstellen, so Hofer, er werde aber als Klubobmann die ÖVP-Linie bestimmen. Gleichzeitig werde nun mit Schallenberg einer der engsten Vertrauten von Kurz Regierungschef, der selbst über keine Hausmacht in der ÖVP verfüge, so Steiner-Hämmerle.

Politologin: „Kurz verliert an Rückhalt in ÖVP“

Sebastian Kurz ist als Bundeskanzler zurückgetreten, Alexander Schallenberg (beide ÖVP) folgt ihm nach. Ist damit die Regierungskrise beendet und die Ära Kurz vorbei? Dazu eine Analyse von Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle.

Druck aus den Ländern?

Allerdings müssen die ÖVP und Kurz in nächster Zeit wohl das auch nach außen demonstrieren, was Kurz in seiner Rückzugsrede so betont hatte: Staatsräson und konstruktive Arbeit. Weiter zu zündeln würde wohl bei einem nächsten Wahltermin – wann auch immer dieser sein mag – nicht gut ankommen.

Und auch die mächtigen Landeshauptleute würden das nicht goutieren. Vor allem aus Niederösterreich sei am Samstag der Druck auf Kurz sehr groß geworden, schrieb die „Kronen Zeitung“, die auch andeutet, dass einige der ÖVP-Minister ihre Unterstützung für Kurz erst nach ein wenig Druck aus dem Bundeskanzleramt unterschrieben hätten.

Rückkehr – und wenn ja, wann?

Interpretationssache ist wohl die Ansage von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP), dass der Rückzug von Kurz zeitlich begrenzt sei. „Bis zur Klärung der Vorwürfe“, schrieb sie am Samstagabend auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Der steirische ÖVP-Chef Hermann Schützenhöfer sagte hingegen, der designierte Kanzler Schallenberg sei keine Puppe, die dann wieder abgezogen werde: „Nein, das ist auf Dauer“ – mehr dazu in steiermark.ORF.at.

Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer meinte am Sonntag in der ORF-Sendung „Hohes Haus“, sie könne „ausschließen“, dass Kurz in dieser Legislaturperiode wieder Kanzler werde.

Neue Enthüllungen als Damoklesschwert

Für Hofer war Kurz’ Rücktritt „ein tiefer Fall, aber auf Watte“. Die Partei wisse, was sie ihm zu verdanken habe, meinte Hofer. Gerade in den Ländern wisse man aber auch, welche Hypothek diese Justizermittlungen etwa mit Blick auf künftige Wahlen wären. Entscheidend werde nun sein, was die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) noch zutage fördern.

Das ist tatsächlich das Damoklesschwert, das über der ÖVP – und damit über der Koalition hängt: Die Ermittlungen könnten noch Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis entweder Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird. Und dabei sind auch neue Enthüllungen nicht ausgeschlossen: Die „Presse“ verwies etwa darauf, dass einige der Beschuldigten von der Kronzeugenregelung Gebrauch machen könnten.

Gespräche und Verhandlungen nach Kurz-Rücktritt

Ein politisch alles andere als besinnlicher Sonntag am Ballhausplatz: Hinter den Kulissen wird die Zukunft der Regierung verhandelt. Am Montag werden der neue Bundeskanzler und der neue Außenminister angelobt.

Und nach den Erfahrungen der vergangenen Monate kann wohl auch niemand sagen, ob noch weitere Chats – möglicherweise auch in anderen Causen – plötzlich an die Öffentlichkeit kommen. Bereits als fix gilt, dass die Vorwürfe gegen die ÖVP und den zurückgetretenen Bundeskanzler auch Thema eines neuen Untersuchungsausschusses im Parlament sein werden. Das haben SPÖ, FPÖ und NEOS bestätigt.

Was wird aus Kurz’ Vertrauten?

Für Stainer-Hämmerle ist auch die Frage, ob die ebenfalls von den Korruptionsermittlungen betroffenen Mitarbeiter von Kurz (Kanzlersprecher Johannes Frischmann, Medienbeauftragter Gerald Fleischmann und Berater Stefan Steiner) auch unter Schallenberg bleiben werden. Ein Sprecher von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) wollte sich am Sonntag dazu nicht äußern. Maurer sagte dazu auf Puls24, das sei nicht Entscheidung der Grünen: „Ich bin mir sicher, dass die handelnden Personen das gewissenhaft lösen werden.“

Netzwerk um Kurz

Der scheidende Kanzler Kurz hat sich seit vielen Jahren mit wenigen Vertrauten umgeben. Die Opposition spricht von einem „System Kurz“. Ein Überblick über die Männer im Hintergrund.

Für die weitere Koalitionszusammenarbeit sieht Hofer schwierige Voraussetzungen. Im Hintergrund sei es schon länger unrund gelaufen, Stichwörter etwa Migration und Justizaffären. Eine Achse habe aber immer gehalten und sei die Lebensversicherung der Koalition gewesen, nämlich die Achse Kurz und Kogler. Diese sei nun schwer angeknackst, wenn nicht zu Bruch gegangen.

Auch Stainer-Hämmerle rechnet wie der „Standard“ damit, dass es in der Koalition ungemütlich werden könnte. In seiner Verteidigungsstrategie habe Kurz auch noch gestern behauptet, die Grünen würden das Land ins Chaos stürzen, obwohl doch Vertraute von Kurz im Zentrum der Affären stünden, so Stainer-Hämmerle. Sie erwartet deshalb genauso wie Hofer, dass nun beide Parteien mit Blick auf Umfragen taktieren werden, wann ein guter Zeitpunkt für eine Neuwahl sein könnte.

Niemand will Neuwahl – aus guten Gründen

Doch eines haben die vergangene Tage auch gezeigt: Alle Partei schrecken derzeit davor zurück, eine Neuwahl zu fordern oder gar anzuzetteln – und das wohl aus guten Gründen: Es wären die dritten – teuren – Wahlen seit 2017. Die ÖVP müsste sich überlegen, wie sie ins Rennen geht und welche Rolle Kurz und sein Umfeld dabei spielen, wenn jederzeit neue Entwicklungen in der ÖVP-Affäre aufs Tapet kommen können.

Ein völliger Rückbau von Türkis auf Schwarz scheint auch ein Unterfangen mit mehr Risiko als Chancen zu sein, noch dazu mit der Frage, wer die Partei in diesem Fall anführen kann. Und von allen Parteien sitzt die Volkspartei wahrscheinlich auf dem größten Schuldenberg – und Spendengelder zu lukrieren ist angesichts der Debatten in den vergangenen Jahren wohl nicht mehr so einfach.

Die Grünen müssten sich zumindest Sorgen machen, wie die bisherige Regierungsperformance und auch die Ereignisse der vergangenen Tage bei der Basis und den Wählerinnen und Wählern angekommen sind.

Auch Opposition im Dilemma

Der SPÖ würde womöglich die nächste Obmann- bzw- Obfraudebatte ins Haus stehen, wenn es darum geht, bei einer solchen Chance jemanden mit „mehr Zug zum Tor“ in den Wahlkampf zu schicken als Parteichefin Pamela Rendi-Wagner. Doch neue Namen sind hier in der immer wieder aufflackernden Debatte noch keine gefallen.

Die FPÖ hat sich unter dem neuen Parteichef Herbert Kickl, der einigermaßen fest im Sattel sitzt, zwar konsolidiert. Von Erfolgen wie früher kann man aber nur träumen. Und eine Wahl wäre wohl erst dann erfolgsversprechend, wenn die Pandemie so weit vorbei ist, dass eine Anti-Coronavirus-Maßnahmen-Partei wie MFG nicht mehr im blauen Wählerteich fischen kann.

Einzig NEOS scheint keine große Angst vor Wahlen haben zu müssen. Nicht ganz auszuschließen sind aber auch neue politische Kräfte: Stürzen Parteien in große Krisen, so sind Abspaltungen – zumindest im Ausland – keine Seltenheit.