Zeitungscovers zum Rücktritt von Sebastian Kurz
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Neue Rolle von Kurz

„Schattenkanzler“ oder Abschied auf Raten?

Wer die Krise hat, muss den Kalauer nicht suchen. „Kurz-Schluss“, „Kurz mal weg“, lauteten nur einige der Stilblüten seit Samstagnacht. Die Rettung vor der Koalitionskrise (manche sagen Staatskrise) in vorletzter Minute ist rasch zum Kampf um die Deutungshoheit geworden. Alte Abhängigkeiten oder Abrechnungsmotive verpuppen sich in der Interpretation der Vorgänge. Ist Kurz jetzt „Schattenkanzler“? Oder ist sein Rückzug vom Samstag tatsächlich ein Abschied auf Raten, weil man, Unschuldsvermutung hin oder her, mit dieser Indizienlage in einem westeuropäischen Land schwer Spitzenrepräsentant eines Staates sein kann? Während weiter regiert und eine Steuerreform gerettet werden soll, ist mit wenig Beruhigung zu rechnen.

Dass es nach dem Patt zwischen „nicht handlungsfähig“ (Grünen-Vizekanzler Werner Kogler) und „voll handlungsfähig“ (Bundeskanzler Sebastian Kurz) einen Fingerzeig für einen Weg aus der Krise bereits Samstagabend geben könne, hätten die wenigsten gedacht. Die Gründe für den doch raschen Meinungsumschwung bei Kurz von Freitag ZIB-Primetime zur ZIB-Primetime am Samstag könnten neben dem proklamierten „Interesse Österreichs“ in den kommenden Wochen ans Licht kommen.

Kommentare in den Medien, die staatsmännisch und mit Weitblick darauf drängten, doch jetzt nicht die Kompromisse der letzten Tage, etwa in der Steuerpolitik, für eine politische Krise zu opfern, waren bis zum Samstag eher in der Minderheit. Manfred Perterer, Chefredakteur der bürgerlich-liberalen „Salzburger Nachrichten“ („SN“), hatte es in einem Leitartikel unter der Überschrift „Das hat Österreich nicht verdient“ vor der Kurz-Entscheidung noch so vermutet: „Der Kanzler könnte jetzt über seinen Schatten springen. Mit dem immerwährenden Treueschwur der Landeshauptleute und den Sympathiepunkten aus besseren Tagen bei vielen Menschen im Gepäck könnte er gehen und sagen: ‚Ich tue es für Österreich.‘ Doch wie es aussieht, wird Sebastian Kurz diesen Schritt nicht machen. Eher lässt er sich abwählen. Die Schuld an der Misere hätten dann wie so oft die anderen.“

Dass er sich in diesem Punkt getäuscht hat, wird der „SN“-Chefredakteur gewiss verwinden. Auch im grünen Lager dominiert zunächst wohl das Aufatmen, dass dieser sehr hohe Poker von Kogler unter Einbeziehung der „Kickl-Option“ (wie es in sozialen Netzwerken hieß) nun in eine zumindest temporäre Staatsräson aufgegangen ist.

Hans Bürger analysiert die derzeitige Situation

Ob der Wechsel im Kanzleramt für Stabilität in der Koalition sorgt, darf langfristig bezweifelt werden. Im Parlament wird Kurz von August Wöginger unterstützt werden.

Der Hauch von Räson in der Krise

Realpolitisch wäre für die jetzige Koalition vieles verspielt gewesen. Nicht nur eine Covid-19-Präventionspolitik mit einer Vierparteienpolitik unter Einschluss der FPÖ schien vielen schwer vorstellbar. So gibt es im Moment die Möglichkeit der Rettung von Regierungsvorhaben der letzten Wochen; möglicherweise aber auch nicht viel mehr, wenn man sich die Stimmungslage zwischen Türkis und Grün anschaut.

„Wie sich das auf Dauer ausgehen soll, sehe ich nicht“, meinte auch ZIB-Innenpolitik-Chef Hans Bürger am Sonntagabend zur Fortsetzung der Koalitionsarbeit. Bürger erinnerte daran, dass die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer eine Rückkehr in die Rolle des Kanzlers ausgeschlossen habe. Dennoch plädierte er dafür, dass man mal das neue Kabinett unter Alexander Schallenberg arbeiten lassen solle.

„Nicht leicht, für keinen von uns“

„Es ist nicht leicht, für keinen von uns, aber ich glaube, wir zeigen ein unglaubliches Maß an Verantwortung für dieses Land“, hatte ein von seiner neuen Rolle noch mittelbegeisterter Schallenberg am Sonntag verkündet, während aus den Reihen der ÖVP-Landeshauptleute nun der Blick nach vorne forciert wird. Nun könne „endlich wieder weitergearbeitet werden“, so Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) am Sonntag zum ORF.

Reaktionen auf den Kanzlerwechsel

Die ÖVP-Landeshauptleute zeigen sich erleichtert, sie dürften durchaus Druck ausgeübt haben, um Sebastian Kurz zum Rücktritt zu bewegen.

Während sich in den sozialen Netzwerken klare Lagerbildungen zur Beurteilung des Schrittes von Kurz zeigen, scheinen manche heimischen Medien noch mit der Einschätzung der Schritte des ÖVP-Chefs und Neo-Klubobmanns zu ringen. Jene, die dem Kanzler seit je näher standen, betonen die Staatsräson hinter dem Schritt, viele betonen (und, ein Schalk, wer denkt, sie fürchteten es vielleicht auch) die Macht, die Kurz weiter haben werde.

„Es wird auch in drei Monaten nicht okay sein“

In den Tageszeitungen befanden wenige, dass Kurz realisiert habe, was es eigentlich geschlagen hat. Deutlich der „Standard“: Der ÖVP sei klar geworden, dass Kurz „nicht mehr zu halten ist“. Sehr deutlich die „Vorarlberger Nachrichten“: „Kurz selbst ist noch überzeugt, dass ihn dieses Wochenende vielleicht zehn Prozent in den Umfragen kostet und in drei Monaten alles wieder okay sein wird. Er irrt“, schreibt „VN“-Chefredakteur Gerold Riedmann in seiner aktuellen Analyse: „Es wird auch in drei Monaten nicht alles okay sein. Was Sebastian Kurz nicht konnte, hat der Bundespräsident für ihn am Sonntagabend erledigt: Er entschuldigte sich für das Sittenbild, das die Politik abgegeben hat.“ Kurz, so Riedmann, sei kein „Schattenkanzler“, „denn eine Rückkehr ins Kanzleramt ist unvorstellbar“.

Andeutungen zur Rolle der Länder

Die zentrale Rolle der ÖVP-Landeschefs deutet man in verschiedenen Medien eher an. In der Reihe der Bilder, die rund um das neue Regierungsmodell in Gang gesetzt werden, sticht die „Presse“ heraus. Die Rochade sei eine „diplomatische Notlösung“, bei der sich die Frage stelle, ob der Noch-Außenminister als Kanzler ein eigenes Profil entwickeln oder sich „eine Art Putin/Medwedew-Modell“ ergeben werde. Ob die Medienpolitik dann an die eines Kremls erinnere, ließ die „Presse“ offen.

Kurz kündigt Rückzug aus Kanzleramt an

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte an, als Kanzler zurückzutreten und ÖVP-Klubobmann August Wöginger im Nationalrat nachzufolgen. Im Kanzleramt soll ihm der bisherige Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) folgen.

Die Auslandspresse hat jedenfalls weniger den Blick für die Staatsräson – und fragt deutlich nach dem Aspekt der Machtpolitik. Noch vor Bekanntwerden der Kurz-Entscheidung schrieb der „Spiegel“ in seiner neuen Ausgabe in einem Langstück äußerst deutlich: „Es ist eine Affäre, die selbst im skandalerprobten Österreich, wo ‚Freunderlwirtschaft‘ nichts Neues ist, ihresgleichen sucht. Vergleichbares findet sich in westeuropäischen Demokratien selten.“

Politologin: „Kurz verliert an Rückhalt in ÖVP“

Sebastian Kurz ist als Bundeskanzler zurückgetreten, Alexander Schallenberg (beide ÖVP) folgt ihm nach. Ist damit die Regierungskrise beendet und die Ära Kurz vorbei? Dazu eine Analyse von Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle.

„SZ“: „Mensch, dem Werte nichts bedeuten“

„Schamlos hat Kurz alles getan, um an die Macht zu kommen“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) in ihrer Montag-Ausgabe. Kurz habe „aktiv Projekte der Regierung torpediert – sogar als deren Mitglied. Für sehr viele Menschen in Österreich ist Kurz deshalb mehr als untragbar geworden. Das Bild, das sich aus den bekanntgewordenen Chats ergibt, zeigt einen Menschen, der keine Moral hat und dem Werte nichts bedeuten. Einen Politiker, der mit seinen Helfern seinen politischen Aufstieg ohne Skrupel vorbereitet und umgesetzt hat.“ Die Regierungsarbeit könne zwar fortgesetzt werden, weil die Forderung der Grünen nach einer „untadeligen Person für das Kanzleramt“ erfüllt worden sei. „Aber das System bleibt – und dazu gehört auch das für Aufklärung nicht gerade förderliche sehr enge Verhältnis von Politik und Medien“, so die „SZ“.

„Im Lichte der jetzigen Erkenntnisse wird auch klar, warum die von Kurz geführte Regierung im vergangenen Frühjahr vorgeschlagen hat, Hausdurchsuchungen zu verbieten. Sein Verbleib an den Schalthebeln der Macht bewirkt, dass mit ihm auch das System Kurz bleibt. Aber aus einer Lichtgestalt ist eine dubiose politische Figur geworden. Und es zeigt sich: Hochmut kommt vor dem Fall“, heißt es in der Analyse am Schluss. Der Autorin, Ex-„Standard“-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid, mittlerweile Mitglied der Chefredaktion bei der „SZ“, wird man kaum mangelnde Kenntnisse der heimischen Medienpolitik unterstellen können.

Journalisten diskutieren über den Kurz-Rücktritt

Chefredakteure verschiedener Medien besprachen am Sonntagvormittag auf ORF III die Turbulenzen an der Regierungsspitze.

Opposition sieht keine Änderung im „System Kurz“

Dass Kurz weiter die Macht in der ÖVP innehaben werde, betonte Österreichs Opposition am Sonntag, allen voran SPÖ und NEOS, die den Fortbestand des „Systems Kurz“ hinter den getroffenen Entscheidungen kritisierten. Die FPÖ hatte diese Fortschreibung bereits am Samstag bekrittelt.

Das Netzwerk um Kurz

Der scheidende Kanzler Kurz hat sich seit vielen Jahren mit wenigen Vertrauten umgeben. Die Opposition spricht von einem „System Kurz“. Ein Überblick über die Männer im Hintergrund.

Vizekanzler Kogler versprach am Sonntag, dass „die unabhängige Justiz“ ihre Ermittlungsarbeit fortsetzen werde. Und für den Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen war „noch nicht alles erledigt“: Die „Respektlosigkeit“, die die Chatprotokolle offenbarten, könnten nicht dazu führend, dass man daran „achselzuckend“ vorbeigehe.

Unlust zu Neuwahlen als letzter Kitt?

Viele Fragen sind im Moment offen. Auch, was mit den Mitarbeitern aus dem Umfeld von Kurz passiert, die im Rahmen der Protokolle vorkommen und die ebenso Teil der Korruptionsermittlungen sind. Die Politologin Katrin Stainer-Hämmerle fragte am Sonntag, ob jene Mitarbeiter von Kurz im Kanzleramt, Kanzlersprecher Johannes Frischmann, Medienbeauftragter Gerald Fleischmann und Berater Stefan Steiner, auch unter einem Kanzler Schallenberg arbeiten würden. „Mittlerweile ist der einzige Kitt der Koalition, dass beide nicht jetzt gleich Neuwahlen anstreben“, meinte Politikberater Thomas Hofer gegenüber der APA.

Für den Verbleib in Regierungsverantwortung und gegen die Lust auf Neuwahlen könnten auch die Finanzen sprechen. Etwa bei der ÖVP. „Die ÖVP gibt das Geld, das sie nicht hat, mit vollen Händen aus“, schrieb Michael Völker bereits 2019 im „Standard“ und taxierte die Verbindlichkeiten der Bundes-ÖVP auf 20 Millionen Euro. Unwahrscheinlich, dass sich die finanzielle Situation der Partei, die nach eigenen Angaben penibel über Zuwendungen möglicher Unterstützer wacht, verbessert hat. Unwahrscheinlich auch, dass sich ein Abschied aus der Regierung mit ehemaligen Mitarbeitern vor der Tür günstig ausgewirkt hätte.