Szene aus dem Film „Fly“
Studiocanal
„Fly“

„Frauenknast“ trifft „Dirty Dancing“

In den 90er Jahren hat Katja von Garnier mit ihrem Film „Bandits“ einen umstrittenen Hit gelandet. Während der Film für viele junge Frauen zum Klassiker wurde, verrissen ihn die meist männlichen Kritiker gnadenlos. Für die inoffizielle Fortsetzung „Fly“ hat Garnier jetzt das Team von damals wieder vereint.

Sie war immer schon eine Einzelgängerin, jetzt hat sie eine Zelle für sich: Bex (Svenja Jung) sitzt im Gefängnis, weil sie verantwortungslos Auto gefahren ist. Um hier wieder rauszukommen, soll sie eine Resozialisierungsmaßnahme durchlaufen, und da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine ist Müllsammeln, die andere ein Tanzprogramm. „Das bedeutet einen Tag Freigang die Woche“, lautet der Satz, mit dem sich Bex dann doch überreden lässt.

Das Angebot spielt ihr Katja Riemann zu, die in „Fly“ Bex’ Bewährungshelferin mimt. Die Maßnahme mit großem Engagement ins Leben gerufen und durchgesetzt hat die verhuschte Beamtin Sara (Nicolette Krebitz), obwohl kaum ein Tanzlehrer die Aggression der Jugendlichen aushält. Im Training trifft Bex nun auf lauter andere Einzelkämpfer, etwa Jay (Ben Wichert), der ein bisschen gedealt hat und Fahid (Majid Kessab), der in eine Schlägerei verwickelt war.

Szene aus dem Film „Fly“
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„Ergreif die Chance!“ – Bex (Svenja Jung, rechts) mit ihrer Bewährungshelferin (Katja Riemann)

Und dann ist da noch Tanzcoach Ava: grundgrantig, hinkend, melancholisch, hauptberuflich Taxlerin, aber leidenschaftliche Tänzerin, zumindest früher einmal. Sie interessiert nicht, wie die Jugendlichen tanzen können, sondern: „Könnt ihr mit Tanz eine Geschichte erzählen?“ Ava wird gespielt von Jasmin Tabatabai, und auf einmal fügt sich alles zusammen: Riemann, Krebitz, Tabatabai und eine Resozialisierungsmaßnahme, das gab es doch schon einmal.

Frei tanzen, frei singen

Die drei Schauspielerinnen sind vor 24 Jahren im Film „Bandits“ gemeinsam hinter Gittern gesessen, haben eine Band gegründet, sind ausgebrochen, haben legendäre Freiluftkonzerte gespielt. Der Film, der damals mit schnellen Schnitten und einem ordentlich produzierten Soundtrack nah am Musikvideostil und damit auch an Jugendmedien wie MTV und Viva war, kam vor allem bei einem jungen Frauen- und Mädchenpublikum sensationell gut an.

Szene aus dem Film „Fly“
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Komplizinnen wie damals: Tanzcoach Ava (Jasmin Tabatabai) und Beamtin Sara (Nicolette Krebitz)

Das in den 90er Jahren männlich dominierte Feuilleton konnte mit dem Film hingegen wenig anfangen. Berüchtigt untergriffig war etwa die Rezension in der „Süddeutschen Zeitung“, die der Regisseurin den Nachnamen verweigerte. Von „Rebellen-Katja“ war da die Rede, gleich fünfmal im Text. Zum 20-Jahr-Jubiläum von „Bandits“, das bei der Berlinale 2019 mit einer Sondervorstellung gefeiert wurde, wurde an die Rezeptionsgeschichte erinnert, rehabilitierende Artikel wurden geschrieben über den Film, der, so hieß es, vielleicht einfach missverstanden worden war, als zu kommerziell, zu jugendlich.

Heute sieht das Garnier, seither mit der „Ostwind“-Jugendfilmreihe erfolgreich, gelassen. „Für viele Mitwirkende war der Film ein Fundament, das zu anderen Sachen geführt hat, und deswegen reden wir nach wie vor gerne über ‚Bandits‘. Ich fokussiere mich auf das, was toll gelaufen ist“, meint sie gegenüber ORF.at. Ja, sie habe sich natürlich gefragt, warum die Reaktionen damals so negativ ausfielen. „Es gab ja auch eins auf die Mütze wegen des Musikvideostils. Ein, zwei Jahre später fanden die Kritiker das bei anderen Filmen super, wir waren halt ein bisschen früh dran.“ Nur ein Jahr später wurde etwa Tom Tykwer für „Lola rennt“ gefeiert.

Mädchenfilme rehabilitieren

Immer noch stolz ist Garnier darauf, „wie viele Briefe wir von jungen Frauen bekommen haben, die daraufhin begonnen haben, Musik zu machen“. Dass Filme, die sich an junge Frauen und Mädchen richten, immer wieder ein ähnliches Schicksal erleiden, zeigt etwa auch die Rezeption von „Dirty Dancing“. Der vom Publikum von Beginn an geliebte Film handelte eben nicht nur vom Tanzen und Verlieben, sondern im Kern von sexueller Selbstbestimmung bis hin zum Zugang zu sicherem Schwangerschaftsabbruch. In seinem Fall brauchte es 25 Jahre, bis eine publizistische Rehabilitierung und Neueinordnung stattfand.

Garniers neuer Film „Fly“ muss hoffentlich nicht so lange auf Anerkennung warten, auch wenn er, hält man sich nur an den Trailer, Gefahr läuft, als ein weiterer konventioneller Tanzfilm abgetan zu werden. Filme dieses Genres sind seit dem Erfolg von „Save the Last Dance“ in sehr wechselnder Qualität produziert worden. Garnier erfindet den Tanzfilm nun nicht neu, unternimmt aber einige spannende Innovationen.

Szene aus dem Film „Fly“
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Vergebung im Tanz: Beim sanftmütigen Jay (Ben Wichert) kann sich Bex verzeihen

Neben einer Liebesgeschichte, die sich unaufhaltsam zwischen Bex und Jay entwickelt, zielt „Fly“ nicht auf einen Wettbewerb ab, wie das sonst üblich ist. Hier erzählen die Tanzchoreografien selbst die Geschichte weiter: „Für uns war wichtig, dass der Tanz Dialog ersetzt. Der Film ist sozusagen ein ‚Dancical‘, wir wollten, dass der Tanz inhaltliche Aufgaben übernimmt“, so Garnier. Manche Choreografien wirken tatsächlich wie Zwiegespräche, etwa ein Duett zwischen Bex und Jay. In einem anderen Fall wird aus einem komplizierten Behördenvorgang eine akrobatische Einlage.

Überlebensstrategie Tanz

Anrührend ist besonders eine frühe Filmszene, in der Ava von den Jugendlichen verlangt, dass sie in einer Improvisation ein Element darstellen, Feuer, Wasser, Luft oder Erde. Der französische Choreograf und Bewegungskünstler Yaman Okur hat in Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern diese Szene erarbeitet, die die Aufmerksamkeit des Publikums von den bloßen Schauwerten auf die durch Tanz vermittelten Inhalte lenkt.

Tanz ist hier nicht Dekorationselement, sondern Lebensmotiv, wie Garnier erläutert. Gemeinsam mit der Berliner Urban-Dance-Company Flying Steps hat sie die Geschichte entwickelt: „Bevor wir überhaupt ein Drehbuch hatten, haben wir die Tänzer und Tänzerinnen interviewt, und dabei ein gemeinsames Thema festgestellt. Viele der Tänzer hatten mit dem Tanz eigene Grenzen überwunden, im Sinne von Tanz als Überlebensstrategie.“ Einer habe erzählt, dass er früher Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte und sie durch Tanz überwinden konnte.

Heimliche Fortsetzung

„Zwei andere hatten Polio und haben ihren Körper und ihre Bewegungen so entwickelt, dass sie damit als Tänzer einzigartig waren. Ich fand das ungeheuer inspirierend. Und so wurde Tanz als Überlebensstrategie zum Thema des Films.“ Genau so verhält es sich in „Bandits“, wo die Musik dieselbe Funktion hat. Die Idee dazu stammt von Katja Riemanns Tochter Paula Romy, einer jungen Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin.

Dass aus „Fly“ eine inoffizielle „Bandits“-Fortsetzung wurde, war eigentlich nicht so geplant, so Garnier, „das hat sich nach und nach ergeben“. Anfangs war Riemann fix dabei, und auch Krebitz, die eine erfahrene Tänzerin ist. „Die Rolle, die Jasmin Tabatabai spielt, war als Mann gedacht, und wir fanden niemanden. Und dann hat Katja gesagt, ‚Warum nimmst du nicht Jasmin?’“ Damit waren auf einmal alle drei Bandits wieder versammelt. Für die, die ihn entdecken wollen, gibt es sogar einen kurzen Moment des Wiedererkennens – „für die Fans“.