Euro-Münzen
ORF.at/Christian Öser
Sparen oder ausgeben

Europa muss sich entscheiden

Am Dienstag ist in der EU-Kommission der Startschuss für die Neubewertung des Stabilitätspakts gefallen. Gemeinsam mit den Mitgliedsländern und Fachleuten soll herausgearbeitet werden, ob die bisherigen strengen Sparregeln der EU angesichts von Pandemie und Klimakrise noch zeitgemäß sind – ein Konflikt, der stark ideologisch geprägt ist.

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not – so hat es die EU während der Pandemie gehalten. Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, durch den die Mitgliedsstaaten zum sparsamen Haushalten verpflichtet sind, wurde bis Ende 2022 ausgesetzt, um Konjunkturmaßnahmen in der Covid-19-Krise zu ermöglichen.

Ab Dienstag wird nun verhandelt, wie die EU dann weiter verfahren soll. Mit einer „öffentlichen Konsultation“ sollen die nationalen Regierungen sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft mit den EU-Institutionen Reformen des Pakts erarbeiten. Währungskommissar Paolo Gentiloni forderte beim Startschuss in Straßburg eine Debatte „ohne Tabus“. Der Weg dürfe nicht „zurück zur Austerität“ führen, also zu strengen Sparauflagen. Der Abbau von Schulden der Mitgliedsländer müsse „sowohl realistisch sein als auch vereinbar mit einer nachhaltigen Wachstumsstrategie“. Vizekommissionspräsident Valdis Dombrovskis sagte zudem, die EU brauche „einfachere Regeln“.

Konflikt neu entfacht

Bei der Überprüfung des Pakts geht es einerseits darum, das Abkommen zu vereinfachen. Was 1997 mit zwei Verordnungen und einer Resolution von insgesamt rund zwölf Seiten begann, hat sich inzwischen vervielfacht und wird von einem 108-seitigen Benutzerhandbuch begleitet, das noch dazu jedes Jahr von der Kommission aktualisiert wird.

EU-Fiskalregeln

Die Mitgliedsstaaten dürfen ihr Haushaltsdefizit nicht über drei Prozent bringen, die Gesamtverschuldung darf nicht über 60 Prozent des BIP steigen. Fast kein EU-Staat erfüllt diese Kriterien derzeit. Wegen der Pandemie sind die Regeln außer Kraft gesetzt.

Andererseits wird die Frage aufgeworfen, ob die Regeln des Pakts aufgeweicht werden müssen. Es ist ein stark ideologisch aufgeladenes Thema: Sollen die Mitgliedsstaaten weniger sparen müssen, um mehr Investitionen – vor allem in den Klimaschutz – zu ermöglichen? Oder bleibt man beim Spargebot, damit nicht einige Staaten immer wieder andere, wirtschaftlich schwächere Länder „retten“ müssen? Die Fronten dieses Streits sind spätestens seit der Griechenland-Krise klar.

Nun ist der Konflikt angesichts der in manchen Ländern aufgetürmten Schulden in der Pandemie neu entbrannt. Die Gesamtschulden der Euro-Länder wuchsen im Schnitt auf fast hundert Prozent der Wirtschaftsleistung an, die Fiskalregeln erfüllt derzeit kaum noch ein Mitgliedsstaat.

Österreich bleibt „frugal“

Länder wie Italien wollen weichere Regeln als bisher, andere Länder, die sich selbst „frugal“ nennen, sind strikt dagegen. Bei den Reformgegnern federführend mit dabei ist auch Österreich: Vergangene Woche bestärkte Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) gegenüber ORF.at die Linie, die Sparpolitik müsse fortgesetzt werden.

Währungskommissar Paolo Gentiloni und Vize-Kommissionspräsident Valdis Dombrovskis
APA/AFP/Ronald Wittek
Gentiloni und Dombrovskis eröffneten die Debatte über die Zukunft der EU-Wirtschaftspolitik

Auch Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich gegen eine Neuausrichtung der Sparpolitik aus. „Der Stabilitätspakt, so wie er heute ist, hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, die ja auch weidlich genutzt wurden“, sagte Merkel am Montag. „Deshalb bin ich nicht sehr enthusiastisch über eine Veränderung des Stabilitätspaktes.“ Das sei ihre persönliche Meinung, so Merkel, die vor ihrer Politpension steht.

Erinnerung an griechische Krise

Deutschland gehörte in der griechischen Finanzkrise zu den Tonangebern. Über Jahre waren die Staatsschulden Griechenlands weit über das erlaubte Maß gestiegen, aber die Zahlen geschönt. 2009 machte die Regierung die korrekten Daten publik, woraufhin die Renditen der Staatsanleihen explodierten. Die Folge waren drei Hilfsprogramme von EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), die scharfe Spareinschnitte mit sich brachten – großteils zulasten der Bevölkerung. Steuern wurden empfindlich erhöht, die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Noch heute leidet Griechenland an der Folgen der sozialen Krise.

Henne und Ei der Wirtschaftspolitik

Befürworter des derzeit geltenden Stabilitätspakts argumentieren, dass die Maßnahmen hart, aber nötig waren. So sagte der frühere deutsche Finanzminister Theo Waigel, einst mitverantwortlich für die Festschreibung der Sparkriterien, der Prozess in Ländern wie Griechenland zeige, dass Reformen wirkten. „Ohne Druck und notwendige Anstrengungen erfolgt keine Konsolidierung der Staatsfinanzen. Und ohne Konsolidierung ist kein vernünftiges Wirtschaften möglich“, sagte Waigel zu Reuters.

Andere sprechen sich gegen ein striktes Spardiktat aus. Schon 2015 positionierten sich 26 bekannte Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschafter wie Joseph Stiglitz und Thomas Piketty in einem öffentlichen Brief gegen die Austeritätspolitik der EU. Auch Klaus Regling, geschäftsführender Direktor des Euro-Rettungsschirms, warnte kürzlich gegenüber dem „Spiegel“, ein Festhalten an den Regeln sei „wirtschaftlich widersinnig geworden“. Man müsse sie an die heutigen Rahmenbedingungen anpassen.

„Zum einen war es unvermeidlich, dass so gut wie alle Staaten ihre Haushaltsdefizite in der Pandemie ausgeweitet haben; sonst wären die Schäden noch viel größer ausgefallen, auch für die staatlichen Haushalte. Zum anderen sind die Zinsen heute weitaus niedriger als vor dreißig Jahren, entsprechend höher könnten die Schulden sein, ohne die Haushalte zusätzlich zu belasten“, so Regling.

Klimaschutzkosten „rausrechnen“?

Die Frage ist nun, ob die bestehenden Regeln neu interpretiert werden sollen, oder ob es eines neuen Abkommens bedarf. Ein Vorschlag der Brüsseler Denkfabrik Bruegel vom vergangenen Monat behandelte etwa die Möglichkeit, Investitionen gegen die Klimakrise von den Defizitberechnungen auszunehmen. Eine Untersuchung habe gezeigt, dass der zusätzliche Investitionsbedarf für die EU-Klimaziele zwischen 0,5 Prozent und einem Prozent des BIP im Jahr liege. Man könne diese Kosten herausrechnen, darüber hinaus müsse der Pakt nicht aufgeweicht werden, solange die Kommission die vorhandene Flexibilität voll ausnutze, so Bruegel.

Alles blickt nach Berlin

Auch Frankreich will eine Reform, die die Regeln grundsätzlich weicher gestaltet. Wie die Debatte ausgeht, wird aber maßgeblich vom anderen großen EU-Player, Deutschland, abhängen. Merkels CDU wird nicht mehr in der Regierung sein, die „Ampel“-Parteien SPD, Grüne und FDP werden das Ruder in Berlin übernehmen. Sie haben sich bereits auf ein Papier geeinigt, das die Haltung der wahrscheinlich nächsten Regierung für alle Interpretationen offen hält: „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat seine Flexibilität bewiesen. Auf seiner Grundlage wollen wir Wachstum sicherstellen, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen sorgen.“