Polens Premier Mateusz Morawiecki im EU-Parlament in Strasbourg
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„Erpressung“

Machtprobe mit Polen im EU-Parlament

Der Streit zwischen Polen und den EU-Institutionen hat am Dienstag eine neue Eskalationsstufe erreicht. Bei seiner Rede im Straßburger EU-Parlament warf Premier Mateusz Morawiecki der EU im Konflikt über die Rechtsstaatlichkeit Erpressung vor. Die EU beharrt hingegen auf ihrem Standpunkt und droht mit neuen Strafmaßnahmen.

Der Schlagabtausch war abzusehen, aber dennoch heftig. Ruhig, aber bestimmt führte Morawiecki den Standpunkt seiner nationalkonservativen PiS-Regierung vor, dem zufolge die EU versuche, in Polen „schleichend“ ihre Kompetenzen auszuweiten. „Spielregeln müssen für alle Mitgliedsstaaten ident sein, es ist die Pflicht der Institutionen, das einzuhalten, darin besteht die Rechtsstaatlichkeit“, so der Premier.

„Die Kompetenzen der EU haben ihre Grenzen, wir können nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.“ Er weise „die Sprache der Bedrohungen und Erpressungen zurück“. Diese sei zu einer Methode gegenüber einigen Mitgliedsstaaten geworden.

Morawiecki spielte damit auf die Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kurz zuvor an. Sie hatte Polens Rolle in der Union darin gewürdigt, aber gleichzeitig mit neuen Sanktionen gedroht. „Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden“, sagte sie am Dienstag. Die Kommission werde handeln.

Analyse zum Streit Polen – EU

ORF-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter berichtet aus Luxemburg über die Konfrontation zwischen Polen und der EU und wie diese von den Mitgliedsstaaten aufgenommen wird.

Vorrang vor EU-Recht infrage gestellt

Einmal mehr geht es um die Rechtsstaatlichkeit in Polen, die seit Monaten die Union beschäftigt. Die EU-Kommission kämpft seit Längerem mit Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen Teile der polnischen Justizreformen und sieht das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts als Gefahr für die Rechtsordnung der EU. Dieses hatte Anfang Oktober entschieden, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Diese Entscheidung gilt als höchst problematisch, weil sie der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, Urteile des EuGH zu ignorieren.

Polens Premier Mateusz Morawiecki
APA/AFP/Ronald Wittek
Morawiecki verteidigte das polnische Urteil, das nationalem Recht Vorrang gibt

Befürchtet wird in Brüssel vor allem, dass die Regierung in Warschau EuGH-Entscheidungen zu umstrittenen Teilen der polnischen Justizreform missachten könnte. Diese beeinträchtigen nach Ansicht der EU-Kommission die Unabhängigkeit der polnischen Richterinnen und Richter und bieten auch nicht die notwendigen Garantien für deren Schutz vor politischer Kontrolle.

Drei Optionen auf dem Tisch

Das polnische Urteil stelle die Grundlagen der Europäischen Union infrage, sagte von der Leyen. „Es ist eine unmittelbare Herausforderung der Einheit der europäischen Rechtsordnung. Nur eine gemeinsame Rechtsordnung ermöglicht gleiche Rechte, Rechtssicherheit, gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten und daraus resultierend gemeinsame Politik.“ Die Kommission sehe sich das Urteil derzeit genau an, sagte von der Leyen: „Und ich kann Ihnen sagen, ich bin sehr besorgt.“

Für die EU stehen mehrere Optionen zur Auswahl. Ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren wäre möglich, so von der Leyen. Auch könnte erneut ein Artikel-7-Verfahren angewendet werden. Dieses könnte sogar zum Entzug der polnischen Stimmrechte bei EU-Entscheidungen führen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
APA/AFP
Von der Leyen zeigte sich „sehr besorgt“

Als dritte Option gebe es die Nutzung eines neuen Verfahrens zur Kürzung von EU-Mitteln, den „Rechtsstaatsmechanismus“. Damit kann die Kommission milliardenschwere Coronavirus-Hilfen so lange blockieren, bis das Land bestimmte Justizreformen zurückgenommen hat, wie von der Leyen sagte. „Dazu zählen der Abbau der Disziplinarkammer, der Abbau des Disziplinarregimes, die Wiedereinsetzung der unrechtmäßig entlassenen Richterinnen und Richter. Das ist die Grundvoraussetzung.“ Morawiecki habe das angekündigt, sagte von der Leyen, und forderte: „Tun Sie es.“

Schlagabtausch zwischen EU und Polen

Im Europaparlament in Straßburg ist es am Dienstag zum offenen Schlagabtausch mit Polen gekommen: Polen beharrt darauf, dass polnisches Recht über EU-Recht steht – und die EU will sich das nicht weiter bieten lassen.

Das EU-Parlament drängt die Kommission schon seit Monaten, von diesem Instrument Gebrauch zu machen: Die Fraktionschefs der Konservativen, der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Grünen und der Linken forderten bereits im Frühjahr in einem Brief an von der Leyen mehr Druck auf Warschau. Das Parlament droht zudem, die Kommission zu klagen, weil sie zögert, den Mechanismus in Gang zu setzen.

„Polexit“-Absichten dementiert

Die Kommission fürchtet aber, dass sich Polen weiter von der EU entfernt. Der Streit brachte Befürchtungen auf, es könne zu einem „Polexit“, einem Austritt Polens aus der EU, kommen. Das dementiert Warschau heftig, Morawiecki sprach am Dienstag von „Fake News“ und betonte, wie stark die polnische Bevölkerung die EU befürworte. „Ich versichere Ihnen, Polen ist und bleibt ein loyales Mitglied der Union.“

Ein Ausweg aus dem Streit ist nicht in Sicht, die Fronten sind verhärtet. Österreichs Regierung hatte zuletzt in Brüssel Dialogbereitschaft mit Polen signalisiert, aber auch klargestellt: „Die Werte der EU sind nicht verhandelbar“, so Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) vergangene Woche.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte am Dienstag in Luxemburg vor einem Treffen mit ihren Amtskollegen, der Streit mit Polen habe eine „neue Dimension erreicht“. Damit stelle Warschau alles infrage, „was wir uns in den letzten Jahrzehnten erarbeitet haben an Glaubwürdigkeit, Zusammenarbeit und auch Zukunftsfähigkeit“. Das Zurückhalten von EU-Geldern halte sie für ein „sehr effizientes“ Mittel.

Auch Thema auf Gipfel

Die SPÖ-Abgeordnete Bettina Vollath sagte, das polnische Urteil zeige, „in welch desolatem Zustand sich der polnische Rechtsstaat bereits befindet. Der polnische Verfassungsgerichtshof ist kein unabhängiges Gericht mehr, sondern ein politisches Instrument der rechtsautoritären PiS-Regierung." Monika Vana, Delegationsleiterin der Grünen im Europaparlament, sagte: „Morawiecki greift in die wehleidige Orban-Trickkiste und betreibt mit seinen haltlosen Vorwürfen gegenüber der EU bloße Schuldumkehr.“ Die Kommission müsse ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten und die EU-CoV-Hilfen zurückzuhalten, „bis wir wirklich sicher sind, dass EU-Recht auch in Polen gilt“.

Die Debatte wird am Donnerstag ihre Fortsetzung finden, wenn die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer in Brüssel zum Herbstgipfel zusammentreten.