Frances Haugen
APA/AFP/Getty Images
Neue Branche

Whistleblowern wird das Feld bereitet

Whistleblower gelten gemeinhin als Einzelgänger oder Einzelgängerinnen, die bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen, um – tatsächliche oder vermutete – Missstände, Fehlverhalten oder Illegalität aufzudecken. Inzwischen aber gibt es mehrere Organisationen, die ihnen dabei helfen, Gefahren zu umschiffen und eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Eine der renommiertesten ist Whistleblower Aid, auf deren Website es heißt: „Whistleblower schützen uns vor Gesetzesverstößen, von denen wir vielleicht nie erfahren würden. Wir helfen Regierungsangestellten und Beschäftigten des Privatsektors, ihre Pflichten zu erfüllen und die Öffentlichkeit zu schützen. Whistleblower Aid bietet legale Alternativen zu illegalen Enthüllungen. Niemand sollte seine Karriere oder seine Freiheit riskieren müssen, um seinem Gewissen zu folgen.“

Die Organisation vertritt etwa die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin und Whistleblowerin Frances Haugen, die Anfang Oktober bei einer Aussage vor dem US-Kongress mit dem Onlineriesen abrechnete. Haugen warf Facebook vor, eigene Gewinne über die Sicherheit von Menschen zu stellen – mit verheerenden Folgen für Demokratie und Gesellschaft. „Die Unternehmensführung weiß, wie Facebook und Instagram sicherer gemacht werden können. Sie nimmt aber nicht die notwendigen Änderungen vor, weil sie ihre astronomischen Profite über die Menschen gestellt hat.“

Lücke tat sich auf

Die Organisation wurde 2017 von den Anwälten Mark Zaid und John Tye gegründet, Letzterer war drei Jahre zuvor selbst Whistleblower im US-Außenministerium. In einem Interview mit dem Blog Gizmodo schilderten sie jüngst ihre Beweggründe: „Wir sahen eine echte Lücke, um Whistleblowern eine wirksame und kostenlose Rechtsvertretung zu bieten, die sich die meisten von ihnen sonst nicht leisten können, und um sicherzustellen, dass sie alles offenlegen können. Und das bei gleichzeitiger Minimierung, wenn auch nicht unbedingt Beseitigung möglicher Vergeltungsmaßnahmen gegen sie.“

Und weiter: „In den letzten Jahren gab es zu viele Fälle von Leuten, die als Whistleblower bezeichnet wurden und streng genommen nur geheime Dokumente gestohlen und an die Medien weitergegeben haben. Und obwohl das je nach Thema sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann, ist es ein Weg, der nicht zu empfehlen ist – nicht für den Einzelnen und nicht für das Land.“ Es gäbe schlicht zu viele Fallstricke, die Whistleblower in eine Lage versetzen könnten, in der straf- oder zivilrechtliche Belangung drohen würde. „Wir sind dazu da, diese Situationen so weit wie möglich zu vermeiden.“

Facebook-Hauptquartier in Menlo Park
APA/AFP/Josh Edelson
Der Aufstieg von Whistleblowern im Silicon Valley brachte eine neue Industrie hervor

Rechtsschutz

Whistleblower sind in den USA rechtlich geschützt. Die auf Frances Haugen anwendbaren Bundesgesetze sind der Dodd-Frank Act, ein Gesetz zur Reform der Wall Street aus dem Jahr 2010, und der Sarbanes Oxley Act von 2002, der auf den Zusammenbruch von Enron und andere Bilanzskandale folgte.

Die notwendigen Mittel dafür aufzubringen sei oft ein Kraftakt, wie Tye unlängst auch gegenüber der „Financial Times“ („FT“) einräumte: „Die Flüge, die Hotels, die neuen Geräte, die spezialisierten Anwaltskanzleien, die Sicherheitsberater, die Dokumentenmanagementsysteme. Wir sind bei all diesen Dingen auf dem neuesten Stand der Technik. Und das alles ist nicht billig.“ Tye sagte auch, dass sich die Beschaffung der Mittel für Erhebungen gegen Big-Tech-Akteure als schwieriger erwiesen habe als gegen politische Akteure. Bestehende finanzielle Verbindungen zwischen Spendern der Organisation und Technologieunternehmen könnten dabei eine Rolle spielen.

Mangelndes Geld als größtes Risiko

In Haugens Fall wurde eine GoFundMe-Seite eingerichtet, um Gelder sicherzustellen – der Zielbetrag von 100.000 Dollar ist derzeit aber noch in weiter Ferne. Tye sagte, dass Whistleblower Aid seit Haugens Auftritt mindestens 19 Fälle ablehnen musste, weil sie nicht über die Mittel zur Verfolgung der Ansprüche verfügten.

Ifeoma Ozoma hat 2020 die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen und den Rassismus im sozialen Netzwerk Pinterest aufgedeckt. Sie sagte gegenüber der „FT“, dass das nur möglich war, weil sie bereits über Kenntnisse im Umgang mit Presseberichten und rechtlichen Fragen verfügte. Ozoma hat kürzlich einen Leitfaden für Tech-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen erstellt, die Mängel oder Verfehlungen aufdecken wollen. Schritt für Schritt wird darin erklärt, wie man auf Medienleute zugeht und mit ihnen interagiert, wie man Rechtsbeistand in Anspruch nimmt und wie man den Schutz persönlicher Daten verbessert.

Screenshot twitter.com
twitter.com
Ifeoma Ozoma hat einen Leitfaden für Whistleblower im Tech-Bereich verfasst

„Geschichten in die Welt bringen“

Der Abschnitt des Leitfadens über Medienbeziehungen wurde von der Plattform Lioness verfasst, die 2019 gegründet wurde und „Menschen helfen will, ihre Geschichten über die Medien in die Welt zu bringen“. Zunächst arbeitete Lioness hinter den Kulissen mit Journalisten und Journalistinnen zusammen, inzwischen werden Enthüllungen auf der Website der Organisation veröffentlicht.

So etwa Anfang Oktober, als Alexandra Abrams, ehemalige Leiterin der Mitarbeiterkommunikation bei Jeff Bezos’ Raumfahrtunternehmen Blue Origin, schwere Vorwürfe gegen das Unternehmen erhob, subsumiert unter dem Titel: „Bezos will eine bessere Zukunft im Weltraum schaffen. Sein Unternehmen Blue Origin steckt in einer toxischen Vergangenheit fest.“ Sie schildert darin Sexismus vonseiten leitender Angestellter und stellt das gesamte Sicherheitskonzept in Frage.

Der Bericht wurde mit Unterstützung von ehrenamtlich tätigen Anwälten verfasst und in Abstimmung mit einem Beitrag auf „CBS Mornings“, einer der meistgesehenen US-Frühnachrichten, veröffentlicht. „Sie waren es, die mich davon überzeugt haben, dass das Thema überhaupt berichtenswert ist“, sagte Abrams.

Zuhören als bestes Konzept

„Wir wollen sicherstellen, dass die Sache so sauber wie möglich abläuft, weil unser Ruf davon abhängt“, sagte Lioness-Gründerin Ariellla Steinhorn gegenüber der „FT“. Sie hofft, dass sich durch ihre Tätigkeit die Machtkonstellationen ein wenig verändern könnten: „Ich habe einige Jahre lang auf der anderen Seite gestanden“, sagte sie. „Was wäre, wenn die durchschnittliche Person über die gleichen Ressourcen verfügt wie die sehr mächtigen Unternehmen? Würde das die Macht ein wenig austarieren?“

Jonas Heese, Professor an der Harvard Business School, der sich auf Whistleblower und unternehmerisches Fehlverhalten spezialisiert hat, schlug eine pragmatischere Lösung vor: unzufriedenen Mitarbeitern zuzuhören. „Die wichtigste Erkenntnis, die Unternehmen gewinnen müssen, ist, dass Whistleblower in den meisten Fällen nicht gegen sie sind. (…) In fast allen Fällen hat sich die überwiegende Mehrheit der Hinweisgeber zunächst an das Unternehmen gewandt, welches das dann ignorierte und Vergeltungsmaßnahmen gegen den Mitarbeiter ergriff. Und das ist in der Regel die Ursache für die Eskalation der Dinge.“