Der runde Tisch beim EU-Gipfel in Brüssel
AP/John Thys
„Werte nicht verhandelbar“

Streit mit Polen nimmt EU-Gipfel in Beschlag

Auf dem ersten EU-Gipfel von Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) dominiert ein Thema, das gar nicht auf der Tagesordnung steht: der zuletzt eskalierte Streit mit Warschau über die Rechtsstaatlichkeit. „Die Grundwerte der Europäischen Union sind unverhandelbar“, so Schallenberg in Brüssel. Polen hat aber ein gewichtiges Ass im Ärmel: Seine Zustimmung zum EU-Klimapaket könnte bald als Pfand dienen.

Der Gipfel dreht sich eigentlich um Migration, die Pandemie und die steigenden Energiepreise. Doch der scharfe Konflikt zwischen der EU-Kommission und Warschau hievte das Thema in den Vordergrund, trotz aller Gegenbemühungen von Ratspräsident Charles Michel.

Anfang Oktober hatte das polnische Verfassungsgericht den Vorrang von EU-Recht infrage stellt. Diese Woche verschärfte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki noch einmal den Ton. Bei einer Rede im Straßburger EU-Parlament warf er der EU-Kommission Erpressung vor. Seine Regierung akzeptiere, dass EU-Recht dort vorrangig sei, wo die Nationalstaaten ihre Kompetenz an die EU-Ebene abgetreten hätten, sagte er dann am Donnerstag. Aber in anderen Bereichen maßten sich EU-Institutionen Entscheidungshoheit an, obwohl die Nationalstaaten zuständig seien.

„Drohkulisse ernst nehmen“

Die EU-Kommission hält derzeit milliardenschwere Hilfen für Warschau aus dem Coronavirus-Wiederaufbaufonds zurück. Insgesamt handelt es sich um über 30 Mrd. Euro, Geld, das das Land dringend braucht. Die Kommission fordert aber, dass Polen erst Teile seiner Justizreformen wieder rückgängig macht. Künftig wäre auch möglich, dass Polen bisherige Zahlungen gekürzt werden. Dem Vernehmen nach will EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erneut die Handlungsoptionen gegen Polen auf den Tisch legen und die Haltung der Staats- und Regierungschefs dazu diskutieren. Ein Beschluss war am Donnerstag nicht zu erwarten.

Schallenberg vor dem EU-Gipfel

Der neue Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) hat die Dialogbereitschaft mit Polen betont.

Polen selbst wolle die Debatte, so Schallenberg am Donnerstag. Das sehe er positiv. Warschau müsse „die finanzielle Drohkulisse sehr ernst nehmen“. Es könne „kein Werte-Rosinen-Picken geben“. Der Bundeskanzler sagte aber auch, dass er einen Dialog „auf Augenhöhe und lösungsorientiert“ führen wolle. „Es kommt schon auch auf die Tonalität an“, sagte Schallenberg, „und vieles in dieser Debatte ist Gift.“

Polen mit Druckmittel

Neben Österreich vertreten auch Länder wie Deutschland die Haltung, die Dialogbereitschaft aufrechtzuerhalten. „Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Brüssel. „Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen. Denn eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems, wie Rechtsstaatlichkeit auch gelebt werden kann.“

Polen selbst hat freilich auch Druckmittel in der Hand. Die nationalkonservative Regierung stellte kürzlich das EU-Klimapaket „Fit for 55“ infrage. Man müsse Teile davon neu bewerten oder verschieben vor dem Hintergrund der steigenden Energiepreise, hieß es kürzlich in einem von Polen verbreiteten Dokument. Die Energiepreise sind das eigentliche große Thema des Gipfels.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass sich die Preise für Gas und Strom bis zum Frühjahr wieder stabilisieren werden. „Fit for 55“ steht noch lange nicht vor dem Beschluss, doch der Brief Polens wird als Erinnerung daran gedeutet, dass die EU Polens Stimme für wichtige Beschlüsse im Rat braucht.

Verquickungen der Interessen

In der Streitfrage über die Rechtsstaatlichkeit hat Polen in der Runde kaum Verbündete – bis auf Ungarn. Auch Budapest ficht mit der Kommission mehrere Konflikte über Rechtsstaatsvergehen aus. Und Ungarn kommt Polen zu Hilfe: Premier Viktor Orban sprach von einer „Hexenjagd“ gegen Warschau.

Orban rief zudem am Donnerstag die EU-Kommission ebenfalls dazu auf, die Klimapläne „vollständig zu überdenken“. Teils handle es sich um „utopische Fantasien“. Orban argumentierte, das Vorhaben heize die deutlich gestiegenen Energiepreise weiter an und werde „die europäische Mittelschicht umbringen“.

Eingriffe in den Markt: Für und wider

Merkel sagte am Donnerstag dazu, dass man die gestiegenen Energiepreise klar von den Herausforderungen des Kampfs gegen den Klimawandel trennen müsse. „‚Fit for 55‘ ist etwas anderes.“ Auch Schallenberg warnte davor, im Zuge der Debatte das EU-Klimaschutzpaket infrage zu stellen.

Gegen die steigenden Energiepreise stellte die Kommission kürzlich eine „Toolbox“ vor mit möglichen Maßnahmen. Diese reichen von Steueranpassungen bis hin zu Direktzahlung an ärmere Haushalte. Die Mitgliedsstaaten sind zu dem Thema zweigeteilt: Spanien und andere fordern etwa Eingriffe in die Preisgestaltung. Deutschland und Österreich warnen hingegen davor. „Wir müssen aufpassen, dass Energie nicht zum Luxusgut wird und in Europa die Lichter ausgehen“, so Schallenberg. Allerdings stehe Österreich im Vergleich gut da, die Gasspeicher seien gefüllt, die Verträge auf Dauer ausgelegt.

Frankreich bewirbt Atomkraft

Das Thema Energiepreise wollte Frankreich beim Gipfel noch für die eigene Agenda nutzen: Es will dafür werben, dass die EU Atomkraft als nachhaltige Energiequelle qualifiziert. Derzeit ist man in der EU uneinig, ob das vor dem Hintergrund des Ziels, klimaneutral zu werden, möglich ist.

Deutsche Kanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel
APA/AFP/John Thys
Merkel nimmt bei diesem Gipfel Abschied vom Brüsseler Parkett

Atomkraft ist eine der wichtigsten Energiequellen Frankreichs, das ab Juni den EU-Ratsvorsitz innehat. Kürzlich kündigte Präsident Emmanuel Macron neuerlich über eine Milliarde Euro für den Bau kleiner Atomkraftwerke und zur Entwicklung neuer Technologien für den Umgang mit Atommüll an. Dabei hat Paris auch eine Reihe von Unterstützern in der EU. Österreich bleibt hingegen bei seiner strikten Ablehnung. Dabei helfen könnte bald Deutschland, wo sich eine Koalition unter Beteiligung der Grünen anbahnt.

Wie schwierig die Annäherung auch bei diesem Thema ist, zeigte sich am Donnerstag deutlich. Nach fünf Stunden wurde die Debatte über Energie zunähst ergebnislos unterbrochen.

Familienfoto zum Abschied

Ein schwieriger Abschlussgipfel, ihr 107., für Merkel also. Sie sei „ein Ruhepol der europäischen Politik, der von der Bühne tritt“, sagte Schallenberg. Er traf Merkel im Vorfeld des Gipfels beim Treffen der EVP in Brüssel, wo sie eine Rede hielt. Ob es größere Abschiedszeremonien für Europas dienstälteste Regierungschefin geben sollte, wurde nicht verraten. Nur ein Familienfoto war außertourlich geplant.