Der türkische Präsident Tayyip Erdogan
Reuters/Sputnik
Streit über Aktivisten

Zehn Botschafter für Erdogan ‚unerwünscht‘

Der Fall des seit mehreren Jahren mit kurzen Unterbrechungen inhaftierten türkischen Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala sorgt nun für heftige diplomatische Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und einigen westlichen Staaten. Am Samstag verlieh Erdogan seinen Drohungen Nachdruck und erklärte zehn Botschafter zu „unerwünschten Personen“.

Er habe das Außenministerium angewiesen, die Diplomaten „so schnell wie möglich“ zur „persona non grata“ zu erklären, sagte Erdogan. Auf diese Einstufung folgt in der internationalen Diplomatie in der Regel die Ausweisung. Das würde zu einer tiefen Krise in den Beziehungen des NATO-Landes Türkei zu Europa und den USA führen. Betroffen von den Ankündigungen Erdogans sind die Botschafter der USA, von Deutschland, Frankreich, Kanada, Dänemark, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Finnland und Neuseeland.

Eine Frist nannte Erdogan nicht: „Sie müssen die Türkei kennenlernen und lernen, sie zu verstehen.“ Der türkische Staatschef warf den Botschaftern „Unanständigkeit“ vor. „Sie müssen hier verschwinden, wenn sie die Türkei nicht verstehen.“

EGMR fordert seit 2019 Freilassung

Diese Auslandsvertreter hatten Anfang der Woche in einem gemeinsamen Appell zur Freilassung des seit vier Jahren ohne Verurteilung inhaftierten Kulturförderer Kavala aufgerufen – mit Verweis auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Der EGMR hatte bereits 2019 die Freilassung Kavalas gefordert.

Osman Kavala
APA/AFP/Anadolu Culture Center
Zehn Staaten und der EGMR fordern die Freilassung von Kavala

Dieses Urteil ignoriert die Türkei bisher, obwohl sie als Mitglied des Europarats eigentlich zur Umsetzung verpflichtet wäre. Kürzlich warnte der Europarat, Schritte gegen Ankara einzuleiten, sollte Kavala nicht vor dem nächsten Treffen der Organisation am 30. November freikommen.

Appell für Ankara „inakzeptabel“

Österreich war nicht bei den unterzeichnenden Staaten, hatte sich aber im Nachhinein damit solidarisiert. „Österreich hätte die Erklärung selbstverständlich unterstützt“, hieß es im Außenministerium gegenüber der „Presse“ (Mittwoch-Ausgabe). Österreich fordere regelmäßig die sofortige Freilassung Kavalas. Offenbar wurde aber Österreichs Botschafter in Ankara, Johannes Wimmer, so wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen nicht gefragt, ob er mitmacht, berichtete die Zeitung weiter.

Am Samstag hieß es vom österreichischen Außenministerium via Twitter, dass man die Ankündigung der Türkei zutiefst bedaure: „Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen umgesetzt werden.“

Ankara bezeichnete den gemeinsamen Appell als „inakzeptabel“. Schon am Donnerstag hatte Erdogan in Richtung dieser Diplomaten indirekt mit Ausweisungen gedroht: „Wir können nicht den Luxus haben, sie in unserem Land willkommen zu heißen.“ Auch Deutschland und die USA ließen „Ganoven, Mörder und Terroristen“ nicht einfach frei.

Bei Verurteilung droht lebenslange Haft

Kavala war ursprünglich wegen des Vorwurfs festgenommen worden, die regierungskritischen Gezi-Proteste in Istanbul im Jahr 2013 finanziert und organisiert zu haben. Im Februar 2020 wurde er davon freigesprochen und kurz darauf nach zweieinhalb Jahren Haft freigelassen.

Demonstranten in Istanbul 2013
Reuters/Murad Sezer
Die Gezi-Proteste galten als ernsthafte Herausforderung für die Macht Erdogans

Allerdings wurde er nur wenige Stunden später wieder verhaftet – dieses Mal im Zusammenhang mit dem Putschversuch gegen Erdogan im Jahr 2016 und Spionagevorwürfen. Zudem hob ein Berufungsgericht Anfang dieses Jahres den Freispruch wegen der Gezi-Proteste auf. Und im Fall einer Verurteilung wegen der Spionagevorwürfe droht Kavala lebenslange Haft.

Der in Paris geborene Kavala betreibt einen der größten Verlage der Türkei und setzt sich mit seiner Organisation Anadolu Kültür für den Dialog der Volksgruppen etwa im Kurden-Konflikt oder mit den Armeniern ein. Er gehörte zudem zu den Gründern des türkischen Zweigs der Open Society Foundation des US-Philanthropen und Investors George Soros.

„Fairer Prozess nicht mehr möglich“

Seine nächste Gerichtsverhandlung ist für den 26. November geplant. Am Freitag kündigte Kavala aber über seine Anwälte an, nicht mehr an Gerichtsverhandlungen teilnehmen zu wollen: „Die erniedrigenden und verleumderischen Aussagen des Präsidenten gegen eine nicht verurteilte Person, deren Prozess noch läuft, sind ein Angriff auf die Menschenwürde.“

Gezi-Proteste

Die Proteste gegen die geplante Bebauung eines kleinen Parks in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul im Jahr 2013 hatten sich zu einer ernsthaften Herausforderung für Erdogans Macht entwickelt.

Erdogan hatte den Kulturförderer zuvor ein „Soros-Überbleibsel“ genannt. Kavala: „Ich denke, dass ein fairer Prozess unter diesen Umständen nicht mehr möglich und es sinnlos ist, künftig an den Verhandlungen teilzunehmen.“ Als seine größte Hoffnung auf Freilassung bezeichnete er den Europarat.

„Wenn das Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wird und der Schaden, der dadurch entsteht, größer ist als der politische Nutzen, der von meiner weiteren Inhaftierung erwartet wird, könnte ich vielleicht freigelassen werden.“ Der Aktivist vermutet, dass Erdogan seine Inhaftierung politisch nutze. Der wahre Grund dafür sei, das „Bedürfnis der Regierung, die Fiktion am Leben zu erhalten, dass die Gezi-Proteste das Ergebnis einer ausländischen Verschwörung waren“, sagte er in einem schriftlich geführten Interview gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Berlin nimmt Äußerungen „zur Kenntnis“

Deutsche Politiker von FDP, CDU und Grünen kritisierten das Vorgehen der türkischen Regierung. Die mögliche Ausweisung der Botschafter wäre „unklug, undiplomatisch und würde den Zusammenhalt des Bündnisses (NATO, Anm.) schwächen“, argumentierte etwa der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) forderte Sanktionen: „Erdogans skrupelloses Vorgehen gegen seine Kritiker wird zunehmend enthemmt.“ Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen sprach gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ von einer „außenpolitischen Eskalation“.

Aus dem deutschen Außenministerium hieß es Samstagabend: „Wir haben die Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan sowie die Berichterstattung hierüber zur Kenntnis genommen und beraten uns derzeit intensiv mit den neun anderen betroffenen Ländern.“

Die betroffenen Staaten Schweden, Norwegen und die Niederlande erklärten, keine offizielle Mitteilung von der Türkei erhalten zu haben. „Unser Botschafter hat nichts getan, was die Ausweisung rechtfertigen würde“, sagte eine Sprecherin des norwegischen Außenministeriums. Aus dem US-Außenministerium hieß es zur Ankündigung Erdogans, man suche „Klarheit vom Außenministerium der Türkei“.

Die Augen sind nun auch auf den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu gerichtet, der zurzeit in Südkorea ist. Setzt er die Anweisung seines Chefs um, wäre es ein drastischer Schritt, der die Beziehungen des NATO-Partners Türkei zur EU sowie zu den USA stark belasten würde – und das eine Woche vor dem G-20-Gipfel in Rom. Dort hofft Erdogan eigentlich auf ein bilaterales Treffen mit US-Präsident Joe Biden.