Europäische Parlament in Brüssel
Reuters/Yves Herman
EU-Parlament vs. Kommission

Klage wegen Untätigkeit

Der Konflikt um Rechtsstaatlichkeit hat am Freitag eine neue Stufe erreicht. Das EU-Parlament klagte die EU-Kommission offiziell vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen Untätigkeit. Das Verfahren wurde bereits im Juni gestartet, um den Druck zu erhöhen. Dass das Parlament nun tatsächlich Klage gegen die Kommission einbrachte, kam bisher erst einmal vor.

Hintergrund der Klage ist der Streit der EU mit Polen und Ungarn wegen Verstößen gegen den Rechtsstaat. Die EU-Parlamentarier argumentieren, dass die Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen eine neue Regelung zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen in EU-Staaten bisher nicht angewendet und nicht alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft habe, um etwa Polen zur Änderung seiner umstrittenen Justizreform zu zwingen.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli ersuchte daher den juristischen Dienst des Parlaments, die Klage einzureichen. „Den Worten müssen nun Taten folgen“, argumentierte Sassoli. Im Juni hatte das Parlament mit einer breiten Mehrheit der Abgeordneten für die Aufnahme des Untätigkeitsverfahrens gestimmt.

David Sassoli
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Parlamentspräsident Sassoli ließ am Freitag die Klage vor dem EuGH einreichen

Parlament fordert sofortiges Handeln

Das Parlament pocht auf die Umsetzung des bereits Anfang des Jahres in Kraft getretenen Rechtsstaatsmechanismus. Dieser sieht vor, dass EU-Mitgliedern Mittel aus dem gemeinsamen Haushalt gekürzt werden, wenn ein Missbrauch des Geldes wegen Rechtsstaatsverstößen droht. Polen und Ungarn haben gegen diesen Mechanismus vor dem EuGH Klage eingereicht. Die beiden Staaten sind der Ansicht, dass dieser Konditionalitätsmechanismus nicht mit EU-Recht vereinbar sei.

Es stehe der EU nicht zu, den Begriff Rechtsstaat zu definieren, so die Argumentation. Kritiker werfen sowohl der ungarischen als auch der polnischen Regierung vor, die Justiz entgegen den EU-Standards zu beeinflussen. Sie sehen deswegen auch eine Gefahr für den EU-Haushalt, weil in der Regel nationale Strafverfolgungsbehörden und Gerichte für die Aufklärung eines möglichen Missbrauchs von EU-Geldern zuständig sind.

Kommission wollte abwarten

Geht es nach der Kommission, sollte noch die für Frühjahr erwartete Entscheidung des EuGH zu dieser Klage der beiden Staaten abgewartet werden, bevor die nächsten Schritte gesetzt werden. Darauf hatten sich auch die Staats- und Regierungschefs geeinigt. So konnten auch die Regierungen in Polen und Ungarn im vergangenen Jahr zur Aufgabe ihrer Blockade wichtiger EU-Haushaltsentscheidungen bewegt werden.

Ursula Von Der Leyen und David Sassoli
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Kommissionspräsidentin von der Leyen (r.) wollte ein EuGH-Urteil abwarten

Diese abwartende Linie vertrat auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, und von der Leyen folgte dieser Position, wie sie auf dem EU-Gipfel Ende vergangener Woche sagte. Vonseiten der Kommission wurde immer betont, dass die Vorbereitungen für den Mechanismus liefen und kein Fall verloren gehen werde.

Von der Leyen: Dialog kein Selbstzweck

Mitte Oktober zeigte von der Leyen Entschlossenheit, rasch das Rechtsstaatsverfahren zu nutzen. Es sei wichtig, dass zu Beginn immer der Dialog stehe. Doch der Dialog sei kein Selbstzweck, sondern müsse zum Ziel führen, sagte von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union. „Deshalb verfolgen wir den dualen Ansatz aus Dialog und entschlossenem Handeln.“

Der ÖVP-Europaparlamentarier Othmar Karas, einer der Vizepräsidenten des EU-Parlaments, hatte zu diesem Zeitpunkt erwartet, dass noch vor dem 2. November der EU-Rechtsstaatsmechanismus gegen Polen und Ungarn durch die EU-Kommission aktiviert werde. Bis zu diesem Datum hätte ansonsten das Europaparlament Zeit, die EU-Kommission wegen Untätigkeit zu klagen, sagte Karas vor zwei Wochen. Die Klage blieb dem EU-Parlament doch nicht erspart. Nun muss der EuGH entscheiden, ob die Kommission handeln muss oder ob sie sich an den – abwartenden – Beschluss der Staats- und Regierungschefs halten kann.